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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide
Autoren: Qiu Xiaolong
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herumgestanden, der Bereich um den Schaukasten war nicht abgesperrt gewesen. Auch Polizisten hatte er keine bemerkt.
    Jetzt sah er eine junge Frau im weißen Mantel auf sich zukommen. Sie glich einer Birnenblüte, eine etwas bemühte Metapher für diesen Wintertag. Es war Hong.
    Einige alte Leute standen vor dem Schaukasten, lasen und unterhielten sich wie gewöhnlich. Erstaunlicherweise drängten sich vor dem Teil mit den Börsenkursen die meisten Leser. »Der Bulle spielt verrückt«, lautete eine der blutroten Überschriften.

4
    HAUPTWACHTMEISTER YU KAM später als gewöhnlich nach Hause.
    Peiqin wusch sich gerade die Haare in einer Plastikschüssel, die sie auf einen Klapptisch nahe dem Waschbecken der Gemeinschaftsküche gestellt hatte. Fünf Familien teilten sich diese Küche im Parterre. Er blieb neben ihr stehen. Sie hob kurz den von Seifenschaum umwölkten Kopf und gab ihm dann ein Zeichen, schon mal in ihr Zimmer hinaufzugehen.
    Dort hatte sie ihm Reiskuchen auf den Tisch gestellt, die zusammen mit Schweinefleischstreifen und eingelegtem Kohl gebraten waren. Da er gerade erst ein paar Dampfbrötchen gegessen hatte, wollte er sich die Reiskuchen lieber als Mitternachtsimbiß aufheben. Ihr Sohn Qinqin blieb wie gewöhnlich lange in der Schule, um sich für die Universitätsaufnahmeprüfung vorzubereiten.
    Beim Anblick des wattierten Bettüberwurfs mit der Drachen- und Phönix-Stickerei und der weichen weißen Kissen fühlte Yu seine Glieder schwer werden. Ohne die Schuhe auszuziehen, warf er sich aufs Bett. Schon nach wenigen Minuten richtete er sich wieder auf und zündete, gegen das harte Kopfteil des Bettes gestützt, eine Zigarette an. Peiqin würde so bald nicht kommen, und er mußte in Ruhe nachdenken.
    Doch auch die Zigarette half ihm nicht, seine Gedanken zu ordnen. Also rekapitulierte er noch einmal, was sie über die qipao -Morde bislang wußten.
    Das Präsidium glich einem Topf mit brodelndem Wasser; Theorien wurden lanciert, Fälle zitiert, Argumente vorgebracht. Jeder meinte, Bescheid zu wissen und mitreden zu können.
    Parteisekretär Li war mit seinem »Vertraut auf die Massen«-Ansatz kläglich gescheitert. Die Befragung der Nachbarschaftskomitees hatte lediglich dazu geführt, daß eine Unmenge vermeintlich verdächtiger Personen Alibis beibringen mußten, doch der ganze Aufwand war, wie zu erwarten, umsonst gewesen.
    In den sechziger und siebziger Jahren waren die Komitees ein probates Mittel zur Einhaltung der Melde- und Rationierungsbestimmungen gewesen. Ein Dutzend Familien, die zusammen ein shikumen -Haus bewohnten und Küche und Hof teilten, konnten sich effektiv gegenseitig überwachen, und den Nachbarschaftskomitees war durch die Ausgabe der Lebensmittelmarken beträchtliche Macht zugekommen. Seit sich aber die Wohnverhältnisse verbessert hatten und das Rationierungssystem abgeschafft worden war, hatten die Nachbarschaftskomitees längst keine lückenlose Kontrolle über die Hausbewohner mehr. In den heruntergekommenen, überbelegten shikumen -Anlagen mochten sie vielleicht noch funktionieren, doch dieser Mörder lebte zweifellos in privilegierteren Wohnverhältnissen und verfügte über mehr Platz und Privatsphäre. Mitte der Neunziger konnte ein Nachbarschaftskader nicht mehr so einfach Einblick in das Leben einer Familie nehmen wie noch unter Mao.
    Auch Inspektor Liaos Durchsicht des Vorstrafenregisters hatte nichts ergeben. Keiner der wegen einschlägigen Sexualdelikten Vorbestraften entsprach dem Täterprofil. Die meisten waren zu arm, nur zwei von ihnen wohnten allein, und lediglich einer, ein Taxifahrer, hatte Zugang zu einem Wagen.
    Die Nachforschungen bezüglich der roten qipaos waren ebenfalls erfolglos geblieben. Man hatte alle Fabriken und Schneidereien, die solche Kleider herstellten, benachrichtigt und um entsprechende Informationen gebeten, aber bislang nichts über das fragliche Modell in Erfahrung bringen können.
    Und mit jedem weiteren Tag wuchs die Gefahr, daß es ein neues Opfer gab.
    Yu starrte durch die Rauchringe seiner Zigarette, als er Peiqin kommen hörte. Rasch drückte er die Zigarette aus und ließ den Aschenbecher verschwinden.
    Heute abend konnte er keine Ermahnungen gebrauchen. Er wollte den Fall mit ihr besprechen, denn sie war ihm – auf ihre Weise – auch schon bei früheren Ermittlungen behilflich gewesen. Vielleicht würde sie ihm etwas über diese Art Kleider erzählen können. Wie alle Shanghaierinnen liebte sie Einkaufsbummel, auch wenn es
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