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Blut und rote Seide

Blut und rote Seide

Titel: Blut und rote Seide
Autoren: Qiu Xiaolong
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alteingesessenen Läden waren aufwendig renoviert worden, so als hätten sie sich einer Schönheitsoperation unterzogen.
    Das Shanghaier Kaufhaus Nummer Eins, einst das beliebteste der Stadt, wirkte schäbig, ja deprimierend im Kontrast zu all den neuen Gebäuden. Er hatte dort vor langer Zeit in einem Mordfall ermittelt. Das damalige Opfer, eine nationale Modellarbeiterin, hatte den Niedergang des Kaufhauses nicht voraussehen können, sie war nur um den Verlust ihres eigenen politischen Einflusses besorgt gewesen. Inzwischen war dieser Staatsbetrieb nicht länger für Solidität und Seriosität bekannt, sondern für schlechte »sozialistische Bedienung« und ebensolche »Qualität«. Diese Veränderungen waren Ausdruck eines tiefgreifenden Wertewandels: Der Kapitalismus galt mittlerweile als überlegen.
    In der Auslage streckte eine schlanke Schaufensterpuppe – wohlgemerkt eine mit westlichen Zügen – in amouröser Geste die Arme nach dem Oberinspektor aus; er versuchte, seine abschweifenden Gedanken zu zügeln.
    Eine Idee für seine Arbeit war ihm bereits nach dem Gespräch mit Bian gekommen, und zwar durch dessen Erwähnung der Durstkrankheit. Er hatte zu Hause im Lexikon nachgeschlagen, doch keinen Beleg für Bians Wortgebrauch gefunden. Während »durstig« oder »dürsten« durchaus in Verbindung mit Liebessehnsucht gebraucht werden konnte, verstand man unter »Durstkrankheit« ausschließlich Diabetes. Deshalb wollte er in der Bibliothek weitere Nachschlagewerke konsultieren. Vielleicht gab diese Beobachtung etwas her, einen Wandel in der Bedeutungsstruktur des Ausdrucks.
    Das Türmchen der Bibliothek lugte bereits hinter der Ecke Huangpi Lu hervor. Es hieß, auch die Bibliothek werde bald ausgelagert, und Chen fragte sich, als er durch die Drehtür ging, wo sie künftig untergebracht sein würde.
    Im ersten Stock händigte er Susu, der hübschen jungen Bibliothekarin am Schalter, eine Liste mit Titeln aus. Sie warf ihm ein Lächeln zu, das zwei reizende Grübchen entstehen ließ, und machte sich auf die Suche nach den Büchern.
    Er hatte sich eben im Lesesaal mit Blick auf den Volkspark niedergelassen und wollte das erste Buch aufschlagen, als sein Mobiltelefon klingelte. Er drückte die Empfangstaste, aber niemand sprach. Vermutlich verwählt. Er stellte das Telefon ab.
    Der Ausdruck »Durstkrankheit« war erstmals in der »Geschichte von Xiangru und Wenjun« aufgetaucht, einer biographischen Skizze in Sima Qians Shiji . Die Bibliotheksausgabe dieses frühen Geschichtswerks war durchweg kommentiert und verläßlich. Im knappen Stil des klassischen Chinesisch begann die Episode damit, daß Xiangru und Wenjun sich dank der Musik ineinander verliebten:
     
    Er sang die Zeilen bei einem großartigen Bankett im Hause des Zhuo Wangsu, einem reichen Kaufmann aus Lingqian. Die schöne Tochter des Hausherrn hielt sich in einem Nebenzimmer auf, von wo aus sie einen Blick auf Xiangru erhaschte. Sie war eine große Musikkennerin. Sie beschloß, die Nacht mit ihm zu verbringen. Daraufhin wurden sie Mann und Frau und lebten glücklich und zufrieden …
     
    In der Geschichte kam der Begriff »Durstkrankheit« nur ein einziges Mal vor:
     
    Xiangru stotterte, war aber hervorragend im schriftlichen Ausdruck. Er litt an der Durstkrankheit. Seit er in die Familie Zhuo eingeheiratet hatte, war er reich und mußte sich nicht um eine Beamtenstelle bemühen …
     
    Im weiteren wurde über Xiangrus literarische Karriere berichtet; von der Durstkrankheit war nicht mehr die Rede. Da das Shiji als einflußreiches Textkorpus umfassend rezipiert worden war, gab es zahlreiche Versionen der Geschichte, die das spätere Genrebild vom »Scholar und der Schönen« prägten.
    Chen begann seine Suche in Anthologien und wurde bald fündig. Eine der frühesten Versionen dieser Liebesgeschichte fand sich im Xijing Zaji , den Vermischten Aufzeichnungen aus der Westlichen Hauptstadt , einer Sammlung von Erzählungen und Anekdoten.
     
    Als Sima Xiangru mit Zhuo Wenjun nach Chengdu zurückkehrte, lebten sie zunächst in Armut. Eines Tages begab sich Xiangru mit seinem Federpelz zum Kaufmann Yang Chang und versetzte den Pelz, um mit dem Erlös Wein für Wenjun zu kaufen. Sie umarmte ihn und sagte unter Tränen: »Mein Leben lang war ich wohlhabend, und nun müssen wir deine Kleidung versetzen, um Wein kaufen zu können.« Darauf beschlossen sie, in Chengdu einen Weinhandel aufzumachen. Xiangru, nur in kurze Kniehosen gekleidet, reinigte
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