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Blut & Barolo

Titel: Blut & Barolo
Autoren: Carsten Sebastian Henn
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alle Anwesenden von größter Bedeutung war – von dem außerhalb der Kirchenmauern jedoch niemand etwas ahnte. Die Sonne war längst untergegangen, nur der matte Widerschein des Schnees fiel durch die großen Fenster. Er tauchte das Kirchenschiff in ein diffuses, lebloses Licht, ließ alles unwirklich erscheinen, was im Inneren vor sich ging. Ein junger Pharaonenhund stand zitternd und völlig allein vor dem Altar mit den hohen, gewundenen Säulen und dem Marienbild samt Kinde in der Mitte des goldenen Tryptichons. Jetzt senkte er den Kopf. Ursprünglich war seine seltene, uralte Rasse als »Kelb tal-Fenek« bekannt. Wenn es in der Welt der Hunde blaues Blut gab, so floss es in seinen Adern. Mit dem schlanken, eleganten Körper und den auffällig großen, spitz nach oben stehenden Ohren ähnelte er dem ägyptischen Totengott Anubis. Sein Fell war rostbraun, kurz und glänzend. Eine weiße Blesse zierte die Mittellinie seines Gesichts. Und wie alle seiner Rasse wies er kein schwarzes Pigment auf. Nase, Augenlider und Ohreninnenseiten, alles von der Farbe des Fleisches. Der Name des Hundes lautete Amadeus – und in dieser Nacht sollte sein wahres Leben beginnen.
    Doch niemand hatte ihm verraten, was genau ihn heute erwarten würde. Einer nach dem anderen traten die Mitglieder seiner Sippe in den sakralen Renaissancebau aus dem 14. Jahrhundert. Wie Amadeus mussten sie durch den schmalen Gang gekrochen sein, der von der Piazza Castello direkt ins Innere des Duomo führte und den niemand außer den Pharaonenhunden kennen durfte. Er bestand aus über die Jahrhunderte gegrabenen Gängen.
    Das gute Dutzend Hunde bildete einen Kreis um Amadeus. Dessen ganzer Körper war angespannt, die Hinterbeine leicht eingeknickt, der Rücken rund. Der junge Pharaonenhund kroch förmlich in sich hinein.
    Heute war sein großer Tag. Er würde zum neuen Wächter ernannt werden. Nur einem jeder zweiten Generation wurde diese Ehre zuteil, alle anderen hatten für ihn zu sorgen. Vorgänger war sein Großvater gewesen, der in der letzten Nacht verstorben war. Amadeus war seit langem dazu auserkoren, dessen Platz einzunehmen. Von Geburt an hatte man ihn darauf vorbereitet. Seine Meute hatte ihn gelehrt, ausdauernd und wachsam zu sein, selbst im Schlaf auf jedes Geräusch zu achten und im Notfall loszuspurten wie ein Geist, schnell und lautlos.
    Seine Mutter trat nun zu Amadeus. Sie war stets streng mit ihm gewesen, hatte ihn wenig Zuneigung spüren lassen, ihn dazu erzogen, allein zu sein. So wollte sie ihm beibringen, den Schmerz der Einsamkeit zu umarmen wie einen alten, weisen Freund.
    Es war ihr nicht vollends gelungen.
    Sie leckte ihm zärtlich über die Schnauze. Das hatte sie noch nie getan. Dann hob sie ihre Vorderpfote gegen seine Brust. Es war ein Zeichen der Demut. Von seiner eigenen Mutter!
    Die anderen folgten ihrem Beispiel. Einer nach dem anderen trat aus dem Kreis, zeigte sich unterwürfig und nahm dann wieder seinen Platz im Zwielicht ein.
    Er würde sich ihrer würdig erweisen.
    Amadeus’ Vater und sein Onkel lösten sich nun aus der schweigenden Masse gesenkter Häupter und liefen hinaus. Dann geschah lange nichts. Alle verharrten. Amadeus wagte es nicht, eine Frage zu stellen. Er zwang sich, nicht mehr zu zittern und eine stolze Haltung einzunehmen. Er würde bald der Wächter sein! Ihm war die Ehre zuteilgeworden, bis zuseinem Tod dem heiligen Tuch zu dienen, dem Sindone, in dem der Herr gelegen hatte. Amadeus war der Stärkste und Klügste seines Wurfes, er würde es beschützen, mit seiner Kraft, seiner Schnelligkeit, seinem Körper. Die Aufgabe lastete schwer, aber sicher auf seinen Schultern.
    Plötzlich erschien Nara im Kirchenschiff, seine Großmutter und die Älteste der Meute. In der Schnauze hielt sie, fast zärtlich, nur mit den vordersten Zähnen ihres Fangs, ein kleines Stück hellen Leinenstoffs. Die anderen Pharaonenhunde unterdrückten ein Aufjaulen, als sie in den Kreis trat, und wandten ihre Häupter ab. Als auch Amadeus dazu ansetzte, hieß ihn seine Mutter aufrecht zu bleiben. Der Blick seiner Großmutter war nervös, so kannte er sie nicht. Sie war doch sonst immer so besonnen und warm herzig.
    Sie kam zu ihm und berührte mit dem Leinenstück seine Stirn. Es prickelte. Und das Innere des Duomo schien für einen Moment aufzuflackern, als wären sämtliche Kerzen entzündet worden. Das Rauschen des eisigen Windes brandete auf und hallte im mächtigen Kirchenschiff wie Musik wider.
    Amadeus wusste, dass
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