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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer
Autoren: J Seidel
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Steuermann, ein Ire, war mit den German greenhorns durch das Schiff gegangen, hatte dies und das erklärt, auf Englisch, aber Jockel hatte ziemlich viel verstanden. Dann hatte er dem Koch geholfen, die Kombüse aufzuräumen, und schließlich oben an der Reling ein letztes Mal die Stadt gesehen: als langes Sternenband. Ein Regenschauer hatte die Sterne dann verschluckt und ringsumher war plötzlich nichts als leere Finsternis geblieben.
    »Allein von Fulda bis Hannover hab ich vier Tage gebraucht«, erzählte Jockel zögerlich.
    »Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen«, schimpfte Siggi.
    »Ich hatte nichts zu essen«, fuhr Jockel fort, »weil ich zu Hause türmen musste.« Was dann passiert war, darüber schwieg er lieber.
    Ein Möbelwagen hatte ihn von Fulda bis nach Kassel mitgenommen. Das Brot und Obst des Fahrers mochte er nicht essen. Er fühlte sich so frei und froh, dass er den Hunger lange überhaupt nicht spürte.
    In Kassel war sein Straßenglück schon schmaler ausgefallen; er war zu Fuß mit einem Viehverkäufer nach Göttingen gewandert und hatte erst dort wieder einen Opel aufgegabelt, der bis Braunschweig fuhr. Dann war der Hunger aufgewacht. In Meerdorf fand er im Straßengraben eine Birne, die er herunterschlang, da hatte es das erste Mal im Bauch gezwickt.

    »Und weiter?«, wollte Siggi wissen. Er stützte den Kopf in eine Hand und schaute aus der Dunkelheit herüber. Jockel sah nur seinen Umriss. An der Kabinendecke brannte eine Birne, von einem Gitter eingefasst.
    »In Hannover bin ich auf einen Güterzug geklettert.«
    »Bist du verrückt?«, warf Helmuth ein.
    »Der Zug stand neben der Straße. Ich bin die Böschung hoch und in einen der Waggons gesprungen. Der war so gut wie leer.«
    »Und wie hast du gewusst, wohin er fährt?«, fragte Max vom anderen Ende der Kabine.
    »Das stand auf einem Zettel an der Eisenwand. Es ging nach Travemünde.«
    Siggi lachte. »Und in Lübeck bist du einfach abgesprungen, was? Der hat doch nicht mehr angehalten, oder?«
    »In Lüneburg«, erklärte Jockel. Es war die reine Höllenfahrt geworden. In Lüneburg hatte er sich in einem Hinterhof versteckt. Dort schlief er ein und war am Morgen von einem Kind gefunden und von dessen älteren Geschwistern unter Drohungen vertrieben worden.
    »Da hatte ich dann richtig Kohldampf, nachdem ich wieder auf den Beinen war …« Dass er vor Hunger fast gestorben wäre, sagte er natürlich nicht – es hatte sich jedenfalls verdammt so angefühlt.
    »Dem ging’s wie mir«, erklärte Max. »Scheinst einen tapferen kleinen Bruder zu haben, Helmuth. Aus dem kann noch was werden.«
    Helmuth stimmte zu. »Und dann? Wir sind noch nicht in Hamburg, großer Held.«
    Siggi rief: »Also, wo sind wir jetzt?«
    »Nicht mehr weit: Vierland«, sagte Jockel. »Da bauen sie.
Ich hab mich hingeschlichen, weil da ein paar Lastwagen standen.«
    »Mit denen bist du hergekommen?«, bemerkte Siggi. »Da hast du ganz schön was erlebt …«
    Dass Jockel dort in einen der Bauwagen eingestiegen war, verschwieg er lieber. In seiner Not hatte er einen Topf mit gekochten Kartoffeln und etwas Brot gestohlen. So etwas hatte er noch nie getan.
    »Ich war nicht mehr ich selbst vor lauter Kohldampf.« Mehr sagte er nicht. Er schämte sich noch immer.
    Die Suche nach Helmuth und Siggi hatte auch noch eine Zeit gedauert. Er hatte im Hafen nachgefragt und wieder einen ganzen Tag benötigt. An den Namen Goldschnigg konnte sich der Hafenmeister noch erinnern. »Ist das ein Jude?«, hatte er gefragt. Jockel hatte bloß gelacht – warum, das war ihm selbst nicht klar.
    Drei Tage hatten sie nach einem Schiff gesucht, bis sie die Estampida gefunden hatten. Der Kapitän hatte kein Interesse an Papieren und stellte keine Fragen. Er war ein runder, kleiner Mann aus Polen.
    Jockel hatte kein Gepäck. Sein Bruder kaufte ihm ein raues, großkariertes Hemd und eine Arbeitshose aus festem Zeug. Am teuersten war die Colani ; die Jacke war so dick und schwer, dass Jockel sie kaum tragen konnte. »Ohne die bist du auf See verloren«, stellte Siggi fest und zeigte seine eigene her. »Das weiß in Hamburg jedes Kind.« Auch Max besaß so eine Jacke. Er tauchte darin ein und war beinah verschwunden.
    Wie die Route aussah, wisse selbst der Captain nie genau, hatte der Steuermann erklärt. Klar sei aber, dass man den Atlantik überquere. Jockel hoffte auf New York. Obwohl
die Hungertage überstanden waren, beschloss er jetzt, bevor er einschlief, weiterhin dem Koch zur Hand zu
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