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Blumen für den Führer

Titel: Blumen für den Führer
Autoren: J Seidel
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Gesicht geschrieben stand, oder die anderen Mädchen.
    Die Wachsoldaten nahmen Haltung an. Es wurde still.
    »Jetzt …«, hauchte Lydia.
    Der Führer kam herein. Reni ließ die Arme hängen, verteilte das Gewicht auf beide Beine, wollte gerade stehen, anständig und vernünftig auf ihn wirken. Sie sah zu, wie er das Spalier der Soldaten durchschritt – und wieder hatte sie ihn größer in Erinnerung! Er trug Zivil, einen schwarzen Stresemannanzug, dazu ein weißes Hemd mit Kläppchenkragen und weißer Seidenfliege. Sein Blick bewegte sich zur Seite, aber mit keinem Lächeln, keiner Freundlichkeit, mit keinem Ausdruck im Gesicht. Jetzt schaute er sie an … Komtesse Renata … das Mädel mit dem Blumenstrauß! Aber er sah sie
nicht, sein Blick flog sofort weiter in die Gästemenge. Er ging an ihr vorbei. Er streifte sie ein zweites Mal, aber er sah sie wieder nicht – er hatte sie noch nie gesehen, er wusste nichts mehr von dem Augenblick im Stadion!
    Reni trat einen Schritt zurück. Hitze stieg in ihr empor. Die Lücke vor ihr füllte sich sofort. Anstatt nach vorn zu gehen, um sich zu zeigen, ließ sie andere vor. Sie fühlte Lydias Schulter, die nach vorne drängte. Der Vater starrte auf den Führer, der längst nicht mehr zu sehen war. Er stand im Menschenstrudel, alle strebten auf ihn zu.
    Es wurde leer um Reni. Sie stand alleine und sah mit einem Mal den Irrtum, dem sie aufgesessen war: zu glauben, dass der Führer sie erkennen würde. Das war ein Fehler. Weil er zu viele Menschen sah, täglich, Hunderte. Natürlich. Wie sollte er sich denn an sie erinnern: an ein Mädel, das, unter hunderttausend Blicken in dem Stadion, nur einmal schüchtern vor ihm knickste? Es war naiv und dumm zu glauben, dass sie, Reni, irgendeine Rolle spielte. Um sie her war etwas viel zu Großes wirksam, etwas viel, viel Größeres, als sie mit ihrem Mädchenblick erfassen konnte. Es machte ihr auch Angst, es war undurchsichtig und bedrohlich. Vielleicht für alle, die darin verwickelt waren. Und deshalb gab der Vater ihr keine Antwort auf ihre Frage – darum hatte Chefadjutant Julius Schaub den jungen Storck auf seine Grenzen hingewiesen! Es war ihr einfach noch nicht gelungen, das große Ganze zu erkennen, in das sich alle einzufügen hatten.
    Sie drehte sich herum und ging ins Nebenzimmer.
    Der Raum war leer. Sie nahm in dem bequemen Sessel Platz, sah durch die offene Tür auf das Getümmel im Saal und wischte ihre Wangen trocken. Ihre Traurigkeit vermischte sich mit Dankbarkeit und einem sonderbaren, aber schönen Stolz
auf das, was sie erkannte: Dass sie noch immer Reni Anstorm war. Komtesse Renata war sie ebenfalls. Aber da lag noch ein Stück Weg vor ihr, das sie gehen musste. Sie entschloss sich, allen zu verzeihen, allen, die sie kannte. Denn jeder hatte seine Gründe, so zu handeln, wie er handelte. Dies zu verstehen, überlegte sie, ist wohl das erste große Lebensglück.

Nachspiel
    D ie Kabine hatte acht Kojen, die alle so schmal und kurz waren, dass Jockel die Beine ein Stück einziehen musste, wenn er schlafen wollte. Es waren viermal zwei Etagenbetten. Der Mittelgang ließ zwei Männer nicht ungehindert aneinander vorbeigehen, man musste sich zur Seite drehen.
    Helmuth lag oben, Siggi Goldschnigg gegenüber. Über ihm schlief Tom aus Amsterdam, und in den anderen Kojen lagen drei Matrosen aus Peru, deren Namen Jockel sich nicht merken konnte, und als Achter Max, der Jude, der aus Coburg abgehauen war, wie er erzählte.
    Es war die erste Nacht auf der Estampida . Jockel war noch nie auf einem Schiff gewesen, er hatte ein so großes nicht mal aus der Nähe angeschaut. Wie in einem U-Boot, dachte er. Die Kabine lag im untersten Deck, und jenseits der Kojenwand sei nur noch Wasser, hatte Tom erklärt.
    Als sie an Bord gekommen waren, war es kurz nach acht gewesen und fast dunkel, weil über Hamburg ein Gewitter stand. Das Donnern hatten sie im Innern nur ganz schwach gehört, verschluckt vom Bollern der Maschinen und der »Wellenlager« – darin drehte sich ein Eisenleib, dick wie ein Kirschbaumstamm, der übertrug die Kraft von der Maschine auf die Schraube; das hatte Jockel bereits gelernt.

    »Erzähl mal endlich, wie es war«, sagte Helmuth, als alle in den Kojen lagen. Jockel hatte bislang nicht erzählen wollen, wie es ihm ergangen war.
    Es war jetzt nach Mitternacht. Die Estampida hatte im letzten Licht abgelegt. Der Kapitän stand mit dem Lotsen auf der Brücke und hatte sich bislang nicht blicken lassen. Der
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