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Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)

Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)

Titel: Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
Autoren: Florian Sitzmann
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Unsicherheiten auftauchen, wo Menschen mit und ohne Behinderung aufeinander treffen, ist verständlich. Aber man kann etwas tun, um diese abzubauen. Zum Beispiel kann man nachlesen, wie man sich verhalten soll, wenn man einem Rollifahrer begegnet. Wird er beißen? Wird er kläffen? Muss ich ihn sofort ansprechen und sollte ich ihn dabei dutzen? Gehört es zum guten Ton, den Rollstuhl zu packen und den Menschen darin zu schieben? Das Deutsche Rote Kreuz hat hierzu hilfreiche Tipps ( http://www.drk.riesenbeck.de/rkgem/btd_umgangbehmenschen.htm ).
    Eine davon lautet: »Erst fragen, dann helfen!« Man kann dem Ganzen natürlich auch einen größeren Feinschliff geben. Ich schlage den Knigge vor, die Ideen waren doch schon im 18. Jahrhundert ziemlich gut. Der deutsche Knigge-Rat schreibt in einer Pressemitteilung: »Menschen mit Behinderung stehen nicht auf Mitleid, sondern auf Manieren!« Fragen, Abstand halten und Höflichkeit zählen da dazu. Auch Barrierefreiheit kann unterstützen, weil es kein Gefälle gibt. Niemand, der sich über den Schalter beugen muss, um mich zu verstehen, und niemand, der gleich aus seiner Bude fällt, bloß weil ich eine Wurst bestellt habe.

    Immerhin ist Weihnachtsmarkt, über den Max und ich uns gerade tummeln, keiner, der mir mit Ständen der Aktion Sorgenkind oder ähnlicher Organisationen auf die Nerven geht. Dieses Basar-Ghetto, in dem gehäkelte Topflappen für
Menschen in Not angeboten werden. Obwohl eine gehäkelte Toilettenrolle auf der Ablage des Super Seven bestimmt ein echter Hingucker wäre! Solange es noch keine Basare von behinderten Menschen für Fußgänger gibt, kaufe ich an solchen Ständen sicher nichts. Inklusion bedeutet für mich, dass Menschen für Menschen etwas tun, egal, ob sie den Kopf unter dem Arm tragen oder auf dem Hals.
    Ich habe mein Leben »stufenlos« ausgerichtet – in jeder Hinsicht. Stufenlos in der Kommunikation und auch im Einkauf. Geschäfte, die für mich schwer begehbar sind, betrete ich heute nicht mehr. Früher bin ich hin und wieder aus dem Rollstuhl ausgestiegen und zwei oder drei Stufen hochgekrabbelt. Ich würde mich auch nur in Ausnahmefällen schieben lassen, deswegen fehlen an meinem Rolli entsprechende Griffe. Ich habe alles darauf ausgerichtet, dass ich allein zurecht komme. Außerdem bin ich, wie gesagt, eitel. Wie sieht denn das aus, wenn so ein ganzer Kerl wie ich geschoben wird! Nun ja, so bin ich eben.
    Es geht nicht darum, dass alles gleich verändert werden muss – ein bisschen weihnachtliche Streckgymnastik schadet nichts und hilft obendrein beim Verdauen der Weihnachtsgänse. Aber zu erkennen und zu planen, wie wir barrierefreier leben und feiern können, ist wichtig und ein Muss für die Inklusion. Die Welt mit den Augen des anderen sehen. Wissen, dass auch ich lieber von Angesicht zu Angesicht bestelle und nicht immer auf Hintern blicken mag. Weihnachtsmärkte so zu konzipieren, dass ich bequem rollen kann und mein Blick nicht nach Hürden und Fallen suchen muss. Gleich sein und nicht auf fremde Schultern klopfen.

    »Und was wünscht du dir noch vom Weihnachtsmann?«, fragt Max. »Na, eine Parkplatz-App!«, lache ich und hoffe,
dass irgendein Student dies liest und Lust hat, so ein Leitsystem zu programmieren. Wenn ja: Er oder sie soll sich melden. Ich lad auch zu ’ner Bratwurst ein – und das nicht nur zur Weihnachtszeit.

KAPITEL 14
Gelungene Inklusion – Ein Traum, der wahr werden kann
    Als ich begann, meinen Beruf unter Berücksichtigung meiner Beinsituation zu planen, da waren Umschulungsmaßnahmen ein großes Thema. Stichwort: Reha-Maßnahme. Rehabilitation war damals überhaupt der ganz große Begriff, sowohl in Bezug auf Behinderungen als auch beim Strafvollzug. Irgendwie kurios, dass diese beiden von ihrer Natur her ja doch sehr unterschiedlichen Angelegenheiten in diesem Zusammenhang Hand in Hand gehen ...
    Die Stiftung Rehabilitation Heidelberg (SRH) war eine der Möglichkeiten für Behinderte, sich wieder »eingliedern« zu lassen. Gegründet wurde sie für Kriegsversehrte, im Jahr 1955. Ein Komplex von Häusern am Neckar, aus der Behinderte in die Welt hinaus rollten, als wäre diese Einrichtung ein Nest. Ehrlich gesagt, hat mich die damalige SRH nicht sehr interessiert, weil ich keine große Lust hatte – und habe –, in einem Behinderten-Ghetto zu leben und zu lernen.
    Im Laufe der Jahre hat sich die SRH jedoch verändert. Sehr groß ist sie geworden und sehr modern, mit einem eindrucksvollen
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