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Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)

Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)

Titel: Bloß keine halben Sachen: Deutschland - ein Rollstuhlmärchen (German Edition)
Autoren: Florian Sitzmann
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gut, lassen wir das heute. Es ist schließlich bald Weihnachten, das Fest der Liebe und des Friedens!
    »Hey«, ruft Max und kommt auf mich zu. Wir versuchen, möglichst schnell die Straße zu überqueren, und schon sind wir mitten drin im Gewühl. Vieles, das hier auf dem Boden liegt, ist für meine Räder ein wahrer Hindernisparcours. Versorgungskabel soweit das Auge reicht. Wäre ich noch Fußgänger, dann wäre ich jetzt zwei Meter groß, würde mich durchschlängeln und ganz gelassen über diese Kabel steigen. Mit Rädern statt Beinen ist die Sache schwieriger. Man muss Anlauf nehmen oder einen Umweg fahren.
    »Soll ich helfen?«, fragt Max, aber ich sage: »Nein danke, es wird gehen.«
    »Wirst du oft angesprochen?«, will Max weiter wissen.
    »Nur von Damen ab 90 Jahren«, flachse ich zurück.

    Aber natürlich, ja, ich werde immer wieder angesprochen. Besonders während der letzten paar Jahre. Wenn man seine Behinderung öffentlich macht, dann stellen Menschen gern Fragen oder verteilen wangenerrötendes Lob.
    »Super, wie Sie das machen«, sagen sie zum Beispiel und klopfen mir dabei jovial auf die Schulter. Sie registrieren, dass ich nicht über der Lehne meines Rollstuhls hänge und mich augenscheinlich nicht aufgegeben habe. Beide Daumen hoch.
    Manchmal geht mir das Getue auf die Nerven, denn es ist ja nun nicht die große Kunst, sich wie ein Mensch zu bewegen, wenn man einer ist. Selbst wenn man im Rollstuhl sitzt. Ich lobe ja auch niemanden, bloß weil er sich unter Leute begibt und dabei aufrecht geht: »Gaaanz toll! Mit zwei Beinen prima unterwegs. Super. Weiter so! Immer schön einen Fuß vor den anderen.«
    Zu Beginn meiner Behindertenkarriere versuchte ich mich gleich im Rollstuhl groß zu machen. Das war wohl die »Ich bin der Sitzriese und der Starke im Rolli«-Pose. Ich wollte den Leuten zeigen: Hier bin ich. Nur weil ich im Rollstuhl sitze, lasse ich mich nicht einfach übersehen.
    Wenn ich mich heute an diese Zeit erinnere, muss ich lächeln und es steigen Bilder vom Schlossgrabenfest in Darmstadt in mir auf. Ich mit dem Rollstuhl im Gedränge und noch keine 20 Jahre alt. Trotz meiner Behinderung ging ich auch damals gern auf Partys und Feste. Ich zeigte mich ganz bewusst und wollte, dass die Menschen glotzen. Vom Typ her war ich eher ein »junger Wilder«, und es lag mir viel daran, andere Menschen zu provozieren.
    »Sollen sie doch glotzen und blöde Fragen stellen, wenn sie
sich trauen«, dachte ich. »Wer mich anspricht, der bekommt schon die richtige Antwort!«
    Diese Art von Provokation und kleinem Widerstand war wohl ein Teil meiner Verarbeitung. Es war nicht direkt eine Mutprobe, aber es hatte etwas mit Mut zu tun. Obwohl ich in dieser Zeit immer mit meiner Clique rumzog, was eine andere Situation war, als allein unterwegs zu sein. Du rollst dann los, und deine Leute sind immer mit dabei. Man lacht zusammen, blödelt, hilft sich und ist zusammen stark. Alkohol habe ich allerdings damals auch schon sehr wenig getrunken, denn im betrunkenen Zustand sind blöde Blicke der Passanten noch weniger zu ertragen und Hilfsangebote werden schnell als aufdringlich empfunden. Betrunkene Menschen glauben nicht, dass ich ohne Hilfe klar komme, oder sie kommentieren jeden Schritt. Mit zunehmendem Alkoholpegel nehme ich das persönlich. Heiko Kuhnert, ein Hamburger PR-Berater, der seit seinem siebten Lebensjahr nach einer Tumor-Operation ohne sein Augenlicht lebt, hat das in seinem Blog gut auf den Punkt gebracht: »Es ist dieses Nicht-ernst-nehmen, das mich so wütend macht. Wenn ich sage, dass ich keine Hilfe möchte, dann ist das so. Wenn man mich dann nicht in Ruhe lässt, dann spricht man mir ab, selbst zu wissen, was gut für mich ist.« Genau so ist es.

    »Jedes Verhalten hat Auswirkungen«, sagt Max, während er einen Schokoladenengel kauft. Ich weiß, was er mir sagen will. Nachdem man seine eigene Behinderung begreift, kommt zunächst Verzweiflung und danach Wut. Und zuletzt der ungute Reflex, sich in andere Köpfe hineinzudenken. Zu überlegen, was diese Menschen sehen, denken, fühlen, und in welche Schublade sie dich nach den nächsten drei Minuten stecken. Das kumpelige Auf-die-Schulter-Klopfen empfinde ich dann
als Respektlosigkeit, und die Hilflosigkeit, die sich vielleicht dahinter verbirgt, will ich nicht sehen. Ich muss ja auch klar kommen, obwohl ich manchmal hilflos bin. Und ich klopfe, um dies zu bewältigen, ja auch nicht einfach anderen Menschen auf die Schulter.

    Dass
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