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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Autoren: Anna Reid
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Militärinformationen über Truppenmassierungen westlich der neuen deutsch-sowjetischen Grenze. Britische Warnungen tat man als irreführend ab, da sie den Zweck hätten, die Angehörigen der Roten Armee zu »Soldaten Englands« zu machen. Bekanntermaßen schickte das Handelskommissariat noch bis zur Nacht des Einmarsches Getreide, Erdöl, Gummi und Kupfer nach Deutschland.
    Stalins Bevollmächtigter in Leningrad war bei Kriegsausbruch Andrej Schdanow, ein dicker, blässlicher, kettenrauchender Lehrersohn, der zum Parteisekretär von Gorki (früher und nun wieder Nischni Nowgorod), dann ins Zentralkomitee und nach der Ermordung des Leningrader Parteichefs Sergej Kirow (wahrscheinlich auf Befehl Stalins) im Jahr 1934 in die Führung der Leningrader Parteiorganisation und zum Vollmitglied des Politbüros aufgestiegen war. Hingebungsvoll loyal und wie Stalin ein arbeitswütiger Autodidakt, gehörte er zu den wenigen Personen, die der Diktator duzte. Heute ist er dadurch am besten in Erinnerung, dass er die Verteidigung Leningrads leitete und nach dem Krieg eine tragikomische Amtszeit als Kulturkommissar absolvierte, in der er Anna Achmatowa als »halb Nonne, halb Hure« tadelte und Schostakowitsch auf dem Klavier politisch korrekte Melodien vorklimperte. Vor allem jedoch betätigte er sich als Massenmörder. Er beaufsichtigte nicht nur die Leningrader Säuberungen von 1937 bis 1939, sondern erweiterte sie auch, im Verein mit anderen Politbüromitgliedern, auf die Provinzen – in seinem Fall auf den Ural und das Mittelwolga-Gebiet. Seine Unterschrift ist, zusammen mit der Stalins und Molotows, unter Dutzenden von Todeslisten zu finden.
    Wie Stalin hielt er die Erwähnung eines bevorstehenden deutschen Angriffs für so verfrüht, dass er Moskau am 19. Juni verließ, um einen sechswöchigen Urlaub in Sotschi am Schwarzen Meer zu verbringen. »Die Deutschen haben ihren besten Moment bereits verpasst«, hatte Stalin ihm versichert. »Es sieht so aus, als würden sie 1942 angreifen. Fahr in Urlaub.« Am Nachmittag des 21. Juni, ein Samstag, an dem Schdanow es sich an der Küste gemütlich machte, schwoll das übliche Rinnsal beunruhigender Berichte der Grenzposten zu einem Strom an: Sie meldeten weitere Eingriffe in den sowjetischen Luftraum, verdeckte Bewegungen von Panzern und Artillerie, den Bau von Pontonbrücken und die Räumung von Stacheldrahtverhauen. Kurz nach 21 Uhr überquerten mindestens drei Deserteure – ein litauischer und zwei deutsche Kommunisten – den Fluss Bug bis hin zu den sowjetischen Linien, wo sie Vernehmern mitteilten, welche Befehle gerade vor ihren Einheiten verlesen worden seien. Der Angriff werde um vier Uhr beginnen, sagte der Litauer, und »sie planen, euch ziemlich schnell zu erledigen«. 11
    Im Kreml wetteiferten Furcht und Leugnung immer noch miteinander. Das deutsche Außenministerium, ließ die Botschaft in Berlin verlauten, weigere sich, ihre halbstündlichen Anrufe entgegenzunehmen. Irgendwann am späten Abend unterrichtete der Kommissar für Verteidigung, General Semjon Timoschenko, Stalin telefonisch über die deutschen Deserteure, woraufhin er den Befehl erhielt, eine Krisensitzung von Politbüromitgliedern und hohen Generalen einzuberufen. Bei ihrer Ankunft hörte Stalin auf, hin und her zu gehen, und fragte: »Was werden wir tun?« Timoschenko und Generalstabschef Georgi Schukow beharrten darauf, sämtliche Grenztruppen in volle Kampfbereitschaft zu versetzen, doch Stalin war anderer Meinung: »Eine solche Direktive wäre voreilig. Vielleicht läßt sich die Sache noch auf friedlichem Weg in Ordnung bringen … Die Truppen der Grenzbezirke dürfen sich von keinerlei Provokationen verleiten lassen.« Erst eine halbe Stunde nach Mitternacht ließ er den Befehl erteilen, warnte jedoch, dass die Angriffe vielleicht nur provokativ gemeint seien, und forderte eine »verhüllte« Reaktion. Das Treffen endete um drei Uhr. Eine Stunde später, als Stalin gerade auf seinem Diwan einschlief, rief Schukow erneut an: Auf die größten Städte der westlichen Sowjetunion – Kiew, Minsk, Wilna, Sewastopol – würden Bomben abgeworfen. »Haben Sie mich verstanden, Genosse Stalin?«, fragte Schukow. Er wiederholte seine Worte, bevor er eine Antwort erhielt. Sogar Stalin musste nun zugeben, dass der Krieg begonnen hatte. 12
    Eine der ersten Regeln der Außenpolitik – zugleich eine Binsenweisheit – lautet: Es ist sinnlos, Russland anzugreifen. Warum also beschloss Hitler, der sich des
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