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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Autoren: Anna Reid
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Ausrüstung und Ausbildung betraf. Den Soldaten mangelte es an Waffen, Munition, Winter- und Tarnkleidung. (»Sie hätten uns kein besseres Ziel bieten können«, berichtete ein finnischer Jagdflieger über eine Kolonne, die einen gefrorenen See überquerte. »Die Russen trugen nicht einmal weiße Parkas.«) In erster Linie fehlten ihnen gute Offiziere, da Stalin in seiner Paranoia den jüngsten Terror dazu benutzt hatte, die Streitkräfte zu zerstückeln. Zwischen 1937 und 1939 waren erstaunlicherweise 40000 Offiziere verhaftet und davon rund 15000 erschossen worden. Zu ihnen gehörten drei der fünf Marschälle der Sowjetunion, 15 von 16 Armeekommandeuren, 60 von 67 Korpsbefehlshabern, 136 von 169 Divisionskommandeuren und 15 von 25 Admiralen. Die Überlebenden (von denen 44 Prozent keine Sekundarschule besucht hatten) waren zumeist engstirnige Veteranen des Bürgerkriegs oder über ihre Fähigkeiten hinaus beförderte Subalternoffiziere, die zu viel Angst vor dem Kriegsgericht und dem Hinrichtungskommando hatten, um die Initiative zu ergreifen oder ihre Befehle den sich wandelnden Umständen anzupassen. 6 Die Fehler des Winterkriegs wurden in den ersten Monaten nach der deutschen Invasion so exakt wiederholt, dass man im Rückblick von einer Generalprobe für das Hauptereignis sprechen könnte. Unzweifelhaft war dies der Eindruck der Finnen, die den Zweiten Weltkrieg – in dessen Verlauf sie halfen, Leningrad zu belagern, sich jedoch weigerten, es direkt anzugreifen – weiterhin als »Fortsetzungskrieg« bezeichnen.
    In der Realität jedoch waren die ersten zweiundzwanzig Monate des Zweiten Weltkriegs den Leningradern, wie den meisten gewöhnlichen Russen, recht fern erschienen. »Irgendwo in Europa wurde Krieg geführt«, erinnerte sich ein Leningrader, »mittlerweile seit zwei Jahren – na und? … Es galt als unpassend, sich Gedanken über internationale Ereignisse zu machen, ›ungesunde Stimmungen‹, wie es hieß, zur Schau zu stellen.« 7 Zwar hatten die Finnen verbissen gekämpft, doch die Feldzüge in Polen und den baltischen Staaten waren rasch und mühelos abgewickelt worden. Hitlers Sturmlauf durch Frankreich und die Niederlande im Frühjahr 1940 hatte in der westlichen Literatur belesene Intellektuelle wie die Dichterin Anna Achmatowa betrübt – sie schrieb unveröffentlichte Verse, in denen sie den Fall von Paris und den Londoner »Blitz« betrauerte –, aber die meisten glaubten dem Lautsprecher an der Straßenecke, den »Wandzeitungen« und den Agitatoren auf den endlosen Versammlungen am Arbeitsplatz: Diese verkündeten, die Kapitalisten würden einander in Stücke reißen und die Sowjetunion könne sich anschließend die Überreste einverleiben. Der Pakt mit Hitler sei befristet, und ein Krieg werde auf deutschem Boden ausgefochten und sogleich durch eine Volksrevolution innerhalb Deutschlands beendet werden. Arbeiter in der Leningrader Metallfabrik riefen nach dem nationalsozialistischen Überfall: »Unsere Truppen werden sie verprügeln. In einer Woche ist alles vorbei. Nein, nicht in einer Woche – schließlich müssen wir Berlin erreichen. Das wird drei oder vier Wochen dauern.« 8 Sogar weltklügere Beobachter, die Hitlers Eroberung Jugoslawiens im April (ungeachtet eines sowjetisch-jugoslawischen Freundschaftsvertrags) und Churchills warnende Reden korrekt interpretieren konnten, waren bestürzt, als ihre Befürchtungen tatsächlich eintraten. Zum Beispiel schrieb die Altphilologin Olga Freudenberg, die Cousine von Boris Pasternak: »Das kam furchtbar überraschend, klang fast unglaubwürdig, obwohl es klar vorauszusehen war. Unvorstellbar war nicht dieser Überfall – wer hatte ihn nicht erwartet? … Unvorstellbar war der Einschnitt im Leben, daß dieser Tag so jäh einen Trennungsstrich zog zwischen Vergangenheit und Gegenwart.« 9
    Bekanntermaßen wurde auch die sowjetische Führung völlig überrascht. Stalin und seine Leute seien völlig passiv, vertraute Goebbels seinem Tagebuch einen Monat vor dem Überfall an, »wie Kaninchen angesichts einer Schlange«. 10 Obwohl Historiker immer noch über die Hintergründe von Stalins Außenpolitik der Vorkriegszeit diskutieren, liegt auf der Hand, dass er zwar einen Krieg mit Deutschland erwartete, aber auch daran glaubte, den Konflikt durch Beschwichtigungsmaßnahmen zumindest bis zum folgenden Jahr hinauszögern zu können. Berichte des Sowjetbotschafters in Berlin über Hitlers Absichten wurden ignoriert, ebenso wie
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