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Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)

Titel: Blokada: Die Belagerung von Leningrad, 1941-1944 (German Edition)
Autoren: Anna Reid
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einzige Angehörige der Führung, der in dieser Frage energisch handelte, war der labile Rudolf Heß, der seinen kuriosen Flug nach Schottland nur sechs Wochen vor der Invasion offenbar in der Hoffnung unternahm, durch Friedensverhandlungen mit Großbritannien einen Zweifrontenkrieg zu verhindern.
    Die Planung für Barbarossa wurde im Dezember 1940 abgeschlossen, und man legte den Beginn auf den 15. Mai 1941. Sowohl das Datum als auch der Plan änderten sich bald (Italiens Bitten um Hilfe in Griechenland und Libyen führten zu einer Verzögerung, und der Angriff von zwei Seiten wurde zu einem Angriff auf drei Seiten), doch von Anfang an sollte der Feldzug mit beispielloser Härte geführt werden, wogegen die Wehrmacht beschämend wenig Einwände erhob. »Der Krieg«, schrieb Halder nach einer zweieinhalbstündigen Rede des Führers vor seinen versammelten Generalen am 30. März, »wird sich sehr unterscheiden vom Kampf im Westen … Die Führer müssen von sich das Opfer verlangen, ihre Bedenken zu überwinden.« Im Juni erließ das Oberkommando den sogenannten Kommissarbefehl, der vorsah, politische Offiziere unverzüglich zu erschießen. Weitere Befehle machten »Kollektivmaßnahmen« gegen Zivilisten möglich, »die an feindlichen Akten teilnehmen oder teilnehmen wollen«; außerdem wurde Militärgerichten untersagt, über Verbrechen – darunter Vergewaltigung und Mord – deutscher Soldaten an sowjetischen Zivilisten zu verhandeln. Im Grunde erhielten deutsche Offiziere die Freiheit, mit den Russen nach Belieben zu verfahren. Auch die rücksichtslose Beschlagnahme von Lebensmitteln wurde von Anfang an vorausgesetzt. Die Besatzungstruppen sollten sich von dem ernähren, was sie an Ort und Stelle requirieren konnten, selbst wenn es bedeutete, dass Zivilisten Hunger litten. Der Russe halte der Armut seit Jahrhunderten stand, scherzte Herbert Backe, Staatssekretär im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft, nach derber Nazi-Art. Goebbels witzelte, dass die Russen ihre Kosakensättel essen sollten, und Göring prophezeite das größte Massensterben in Europa seit dem Dreißigjährigen Krieg. 15
    Vor allem aber sollten die Bolschewiki rasch durch einen Blitzkrieg, geführt mit Panzern und motorisierter Infanterie, besiegt werden. Die Wehrmacht werde auf ihrem Vormarsch nicht warten, um jedes Widerstandszentrum einzunehmen, und auf keinen Fall dürfe sie sich auf statische Zermürbungsschlachten einlassen, durch die schon der Erste Weltkrieg verloren worden sei. Insgesamt solle der Feldzug nicht länger als drei Monate dauern. In den ersten Wochen werde man die Rote Armee durch große Schlachten vernichten, um die übrige Zeit dann Säuberungsaktionen zu widmen. Nach der Eroberung werde das ganze europäische Russland in aller Schnelle von einer Zivilregierung aus vier neuen Reichskommissariaten verwaltet werden, so dass die Soldaten heimkehren könnten.
    Nicht nur weil Hitler ein Fantast war, sondern auch weil er die Sowjetgesellschaft völlig missverstand, kam es dazu nicht. Er überschätzte den Einfluss des russischen Antisemitismus bei Weitem, und er unterschätzte den Patriotismus und das Nationalgefühl der Landesbewohner. Genauso wenig wie die damaligen britischen und amerikanischen Meinungsbildner rechnete er damit, dass die meisten Russen, zumal sie in den beiden vorhergehenden Jahrzehnten von ihren Führern terrorisiert und in die Armut getrieben worden waren, einem ausländischen Überfall zähen Widerstand leisten würden. Man brauche nur die Tür einzuschlagen, erklärte er bekanntlich, und das ganze verrottete Gebäude werde zusammenkrachen. Die groben Schmähungen – die Slawen seien geborene Sklaven und bodenlos dumm –, die er in seinen Tischgesprächen ständig wiederholte, waren bezeichnend nicht nur für seinen Rassismus, sondern auch für seine geistige Trägheit, seine Selbstgefälligkeit angesichts eines riesigen, sich rasch wandelnden und geheimnisvollen Landes, über das seine Berater und er kaum etwas wussten. Ironischerweise entsprachen seine irrigen Annahmen den sowjetischen über Deutschland. Zu große Hoffnungen, erinnerte sich einer von Hitlers Generalen später, hätten auf dem Glauben beruht, dass Stalin angesichts schwerer Niederlagen von seinem eigenen Volk gestürzt werden würde. Dieser Glaube sei von Hitlers politischen Beratern genährt worden, und die Offiziere hätten in ihrer politischen Unkenntnis keine Einwände erheben können. 16
    Während der Krieg
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