Blindwütig: Roman
vor. Man konnte fast meinen, es handelte sich um ein Lebewesen, das nur genügend Druck auf die Bildschirmfläche ausüben musste, um sie zu sprengen und ins Zimmer vorzudringen. Am liebsten hätte ich den Computer abgeschaltet, verzichtete jedoch darauf. Milo hatte ihn sicherlich nicht versehentlich angelassen, sondern aus einem ganz bestimmten Grund.
Wieder an seinem Bett stehend, betrachtete ich ihn eine Weile im matten Lampenlicht. Ein wunderschönes Kind.
Obwohl ich eine lebhafte Fantasie besaß, konnte ich mir die Topographie von Milos Ideenwelt nicht einmal ansatzweise vorstellen.
Ich machte mir viele Sorgen um ihn.
Er hatte keine gleichaltrigen Freunde, weil Kinder ihn langweilten. Penny, Lassie, Vivian Norby, Clotilda, Grimbald und ich stellten sein soziales Universum dar.
Ich hoffte, dass er später ein so normales Leben führen konnte, wie es angesichts seiner Begabungen überhaupt möglich war, aber ich war nicht recht dazu geeignet, ihm als Vorbild zu dienen. Mein Sohn sollte das Lachen und die Liebe kennenlernen, er sollte erfahren, wie schön und geheimnisvoll diese Welt war, und er sollte sich über kleine Erfolge und Verrücktheiten freuen können. Er sollte sich immer bewusst sein, dass das große Ganze unzählige kleine, schillernde Facetten hatte; er sollte seine Fähigkeiten beherrschen, statt ihr Sklave
zu sein. Weil ich mir jedoch nicht vorstellen konnte, wie es war, so zu sein wie er, konnte ich ihm normalerweise nicht den Weg weisen. Den mussten wir meist gemeinsam finden.
Abgesehen davon liebte ich ihn so sehr, dass ich alles für ihn ertragen und mein Leben hingegeben hätte, um ihn zu retten.
Aber auch wenn man einen anderen Menschen noch so sehr liebte, konnte man ihm kein glückliches Leben garantieren, nicht mit Liebe oder Geld und nicht mit irgendeinem Opfer. Man konnte nur das Möglichste für ihn tun - und für ihn beten.
Ich gab Milo einen Kuss auf die Stirn, ohne ihn im Schlaf zu stören. Spontan küsste ich auch Lassie auf den Kopf. Ihr schien das zu gefallen, aber ich hatte anschließend Hundehaare auf den Lippen.
Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte exakt fünf Uhr morgens an. In siebeneinhalb Stunden würde die Hündin unten im Wohnzimmer am Fenster sitzen und darauf warten, dass ich mit ihrem liebsten Gefährten wiederkam - während Milo und ich in Roxie’s Bistro beim Mittagessen saßen und dem bekanntesten Literaturkritiker des Landes hinterherspionierten.
5
Die Gäste, die kurz nach zwölf Uhr mittags im Roxie’s saßen, verhielten sich zwar etwas lauter, als ich es von abends her gewohnt war, doch das Ambiente wirkte so entspannend, dass es auch jetzt meist bei ruhigeren Gesprächen blieb.
Hamal Sarkissian brachte uns an einen Zweiertisch im hinteren Teil des langen, rechteckigen Raums. Für Milo hatte er ein Kissen parat.
»Wünscht der Herr Wein zum Lunch?«, fragte Hamal den Jungen.
»Ein Glas kann nicht schaden«, erwiderte Milo.
»In fünfzehn Jahren bekommst du es gerne serviert«, sagte Hamal.
Ich hatte Penny erzählt, ich würde mit Milo erst die Stadtbücherei und dann einen Elektronikmarkt aufsuchen, wo er allerhand für sein aktuelles Projekt besorgen wollte. Anschließend würden wir im Roxie’s zu Mittag essen. Das stimmte alles voll und ganz, schließlich log ich Penny nicht an.
Dass ich beim Essen einen Blick auf den geheimnisvollen Shearman Waxx werfen wollte, hatte ich ihr allerdings verschwiegen. Das war eine Täuschung und daher ein nicht gerade bewundernswertes Verhalten.
Da ich jedoch nicht die Absicht hatte, mich dem Kritiker zu nähern oder mit ihm zu sprechen, hatte ich kein Problem mit dieser kleinen Täuschung. Penny sollte sich keine Sorgen machen, und abgesehen davon wollte ich nicht schon wieder hören, ich solle es einfach gut sein lassen.
Eine solche Unterlassungssünde hatte ich ihr gegenüber erst einmal begangen, wobei es allerdings um etwas Ernsteres gegangen war als jetzt. Seit wir uns kennengelernt hatten, und damit seit vollen zehn Jahren, hatte ich es sorgsam vermieden, ihr das Wichtigste über mich zu erzählen, das, was mich im Leben am meisten geprägt hatte, denn ich wollte ihr ersparen, diese Last zu tragen.
Weil Milo und ich vor Waxx eintrafen, lief ich nicht Gefahr, mein bekanntes Missgeschick mit dem Garagentor zu wiederholen, indem ich versehentlich meinen Wagen ins Lokal steuerte, den Kritiker beim Essen tötete und deshalb fälschlicherweise des vorsätzlichen Mordes bezichtigt wurde.
Da ich Hamal
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