Blindwütig: Roman
vorab telefonisch eingeweiht hatte, deutete er nun auf einen Tisch in der Mitte des Restaurants. »Da am Fenster wird er sitzen«, sagte er. »Beim Essen liest er immer ein Buch. Sie werden ihn sofort erkennen. Er ist wirklich ein seltsamer Typ.«
Im Internet hatte ich bereits das einzige bekannte Foto von Shearman Waxx gefunden, das sich allerdings als nutzlos entpuppt hatte. Das Bild war so verschwommen wie die Aufnahmen des Yetis, die immer wieder durch die einschlägigen Medien geisterten.
Als Hamal uns allein ließ, fragte Milo: »Was für ein seltsamer Typ?«
»Ein Typ eben. Ein Gast. Hamal findet ihn seltsam.«
»Warum?«
»Er hat ein drittes Auge an der Stirn.«
Milo schnaubte verächtlich. »Niemand hat ein Auge an der Stirn!«
»Dieser Typ schon. Und vier Nasenlöcher statt zwei.«
»Ach so?« Er kniff die Augen zusammen wie ein Detektiv,
der in einem Mordfall ermittelte. »Was für ein Haustier hat er denn - etwa einen Schleimschlinger?«
»Zwei sogar«, sagte ich. »Er hat ihnen beigebracht, im Duett zu schlingen.«
Während wir die Speisekarte studierten und unseren Zitroneneistee genossen, ohne uns mit der Bestellung zu beeilen, unterhielten wir uns über unsere Lieblingskekse, die am Samstagmorgen laufenden Zeichentrickserien und darüber, ob Außerirdische die Erde eher zu dem Zweck besuchen würden, uns neue Erkenntnisse zu vermitteln, oder um uns aufzufressen. Außerdem sprachen wir über Hunde im Allgemeinen, Lassie im Besonderen und über Anomalien des Stromflusses in elektromagnetischen Feldern.
Beim letztgenannten Thema bestand mein Anteil an der Unterhaltung aus so viel Grunzen und Schnauben, dass ich mir vorkam wie einer der oben erwähnten Yetis.
Pünktlich um halb eins betrat ein untersetzter Mann mit einer Aktentasche das Restaurant. Hamal begleitete ihn zu dem Tisch am Fenster, auf den er mich hingewiesen hatte.
Fairerweise muss man sagen, dass der Kerl weniger untersetzt, sondern eher stämmig wirkte. Obwohl er etwa halb so breit wie groß war, konnte man ihn nicht als übergewichtig bezeichnen. Vielmehr schien Shearman Waxx so massiv zu sein wie ein Bleiklotz.
Sein Hals war dick genug, um den Steinkopf einer aztekischen Götterstatue zu tragen. Der Kopf passte so wenig zum übrigen Körper, als wäre er von einem geschickten Chirurgen drauftransplantiert worden. Die breite, glatte Stirn, die kühnen, edlen Züge und das starke Kinn erinnerten an eine Münze aus dem alten Rom.
Waxx war etwa vierzig und bestimmt nicht hundertvierzig,
wie in der Online-Enzyklopädie behauptet wurde. Seine Löwenmähne war frühzeitig weiß geworden.
Mit seinen dunkelgrauen Slacks, dem aschgrauen Pepitasakko mit Lederflicken an den Ellbogen, seinem weißen Hemd und der roten Fliege sah er aus wie eine Mischung aus einem Universitätsprofessor und einem Profi-Wrestler. Man konnte meinen, zwei Leute mit diesen Berufen hätten gemeinsam in einer Teleportationskammer gesteckt und wären dabei - wie in dem Film Die Fliege - miteinander verschmolzen.
Aus seiner Aktentasche zog Waxx ein Buch und etwas, das wie ein Folterwerkzeug aus Edelstahl aussah. Nachdem er das Buch aufgeklappt hatte, befestigte er es in den Klammern des Geräts, wodurch es schräg auf dem Tisch stand, um bequem gelesen werden zu können.
Offenbar handelte es sich um eine Persönlichkeit mit klaren Gewohnheiten, denn noch bevor er etwas bestellt hatte, servierte ihm ein Kellner ein Glas Weißwein.
Waxx nickte und äußerte offenbar ein paar Worte, ohne den Kellner anzublicken. Dieser verschwand sofort wieder.
Ohne sich weiter um seine Umgebung zu kümmern, setzte der Kritiker eine Lesebrille mit Horngestell auf, nahm einen Schluck Wein und wandte seine Aufmerksamkeit dem in Stahl gefangenen Buch zu.
Damit man mich nicht dabei erwischte, wie ich das Objekt meiner Neugier anstarrte, setzte ich mein Gespräch mit Milo fort. Nur gelegentlich erlaubte ich mir, einen Blick auf Waxx zu werfen.
Es dauerte nicht lange, bis meine Spionagemission mir absurd vorkam. Obgleich Shearman Waxx tatsächlich ein wenig seltsam aussah, war nichts an ihm besonders faszinierend, sobald das Rätsel seines Aussehens gelöst war.
Ihn anzusprechen hatte ich bekanntlich ohnehin nicht vor. Penny, Olivia Cosima und selbst Hud Jacklight hatten zu Recht gemeint, es sei grundsätzlich eine schlechte Idee, auf eine unfaire Kritik zu reagieren.
Mittlerweile waren die Tische zwischen uns und Waxx besetzt, wodurch mir teilweise der Blick verstellt war. Als
Weitere Kostenlose Bücher