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Blinder Einsatz

Blinder Einsatz

Titel: Blinder Einsatz
Autoren: Florian Lafani , Gautier Renault
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Schweiz
    Am Ufer des Genfer Sees scheint die Zeit stillzustehen. Es genügt, einen Moment innezuhalten und die Landschaft der französischen Alpen auf sich wirken zu lassen, um jegliches Zeitgefühl zu verlieren. Nichts bedrängt einen hier, nichts scheint mehr wichtig – eine Postkartenidylle. Tradition wird noch großgeschrieben. Die Einwohner sind stolz auf ihre Stadt mit dem halb goldenen, halb grünen Wappen. Rolle ist eine beschauliche Kleinstadt, doch sie beherbergt eine ganz besondere Einrichtung, aus der die Mächtigen von morgen hervorgehen: Le Rosey, eines der exklusivsten Internate. Dreihundertachtzig Kinder aus der ganzen Welt – Söhne und Töchter aus Königsfamilien, der Nachwuchs reicher Industrieller und einflussreicher Politiker – erhalten hier eine Erziehung nach Maß. Nichts wird diesen zukünftigen Führungskräften vorenthalten, freilich nach einem äußerst gestrengen Reglement, das aus einer anderen Epoche zu stammen scheint. Man muss nur das schmiedeeiserne Portal aus dem Jahr 1880 durchschreiten und die Hauptallee zum Château de Rosey hinaufgehen, um zu spüren, wie viel Geschichte dieser Ort in sich aufgesogen hat. Unter hundertjährigen Eichen schreiten die Besucher über das achtzig Hektar große, sorgfältig gepflegte Anwesen. Es ist, als befände man sich in einer anderen Welt.
    Der Unterricht begann wie jeden Tag um 8 Uhr. Fünf Minuten zuvor waren die Nachzügler zu ihren Klassenzimmern gehetzt, einige schlangen auf dem Weg noch hastig ihr Frühstück hinunter. Eine Schuluniform ist in Le Rosey zwar heute an normalen Tagen nicht mehr üblich, dennoch ähneln sich die Schüler aus der Ferne, sind adrett frisiert, drahtig und sportlich. Mens sana in corpore sano, so lautet hier die Devise.
    Louis-Jacques Berthier war seit fast fünfzehn Jahren Lehrer in Rosey. Noch immer erfüllte es ihn mit stolzer Genugtuung, wenn er in der Zeitung las, welche Karrieren seine Schützlinge machten. Nicht alle waren ausgezeichnete Schüler, und es erforderte viel diplomatisches und pädagogisches Geschick, um das oft schon deutlich ausgeprägte Ego dieser elitären Jugendlichen nicht zu kränken. Jeder Internatszögling von Rosey hielt sich für etwas Besonderes; schließlich wurden seine Eltern nicht müde, es ihm dauernd einzutrichtern.
    Zehn Minuten nach Beginn seines Literaturkurses stellte Louis-Jacques Berthier fest, dass ein Schüler fehlte. Eine solche Verspätung war in Rosey so außergewöhnlich wie ein pünktlicher Vorlesungsbeginn an einer französischen Universität.
    Da klopfte es an die Klassentür. Angie, die Hausdame, trat ein.
    »Entschuldigen Sie, Monsieur, der Direktor möchte Sie sprechen.«
    Louis-Jacques wies seine Schüler an, ruhig weiterzuarbeiten. Er folgte Angie, die ihn ins Büro des Direktors führte. Der stand am Fenster und wirkte nervös. Ohne Umschweife erklärte er:
    »William ist verschwunden. Er ist nicht auf seinem Zimmer, und wir suchen bereits nach ihm. Monsieur Berthier, Sie kennen unsere Regeln und Prinzipien. Louis-Jacques, ich weiß, dass Sie eine ganz besondere Beziehung zu William haben. Doch ich möchte nicht hoffen, dass Sie irgendwelche Informationen über die Gründe seiner Abwesenheit haben.«
    »Selbstverständlich nicht, Monsieur, und ich versichere Ihnen, dass ich niemals gegen den Kodex von Rosey verstoßen würde!«
    »Gut, gut. Wir tun, was wir können, um ihn zu finden. Ich habe seinen Vater noch nicht verständigt. Im Augenblick dürfen keinerlei Information nach draußen dringen. Zu gegebener Zeit werden wir eine Erklärung herausgeben. Sie können in Ihre Klasse zurückkehren.«
    Das Personal des Schlosses wurde angewiesen, den Park sowie die zahlreichen Nebengebäude zu durchkämmen. Man brauchte fast eine Dreiviertelstunde, bis man den Jungen gefunden hatte. Es handelte sich nicht um einen Schülerstreich. Von Weitem sah es aus wie ein religiöses Renaissancegemälde. Ein Bild aus einer anderen Epoche. An einer der hundertjährigen Eichen fand man William. Nackt. An den Stamm genagelt von den Pfeilen einer Armbrust. Der Kopf hing leicht nach rechts, und die Augen waren weit aufgerissen, sie schienen seine entsetzten Betrachter anzustarren. Einer der Pfeile steckte genau zwischen seinen Augen. Niemand wagte es, seinen Körper anzurühren.
    Als der Rechtsmediziner seine Arbeit beendet hatte, zog man die Pfeile heraus und legte den Leichnam auf die Erde. In seinem Mund fand man zwei Schweizer Fünf-Franken-Münzen.
    THE HAND*

    Ich habe
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