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Blinder Eifer

Blinder Eifer

Titel: Blinder Eifer
Autoren: Unbekannter Autor
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Erlebnisse in seiner Kindheit gehabt. Das wäre sicher anders gewesen, wenn seine Eltern den Krieg überlebt hätten. Sein Vater war als Luftwaffenoffizier auf Feindflug über München abgeschossen worden. In der kurzen Zeit danach, als seine Mutter noch lebte, war Jury noch nicht im schulpflichtigen Alter gewesen.
    Trotzdem hatte er dagesessen und die Kinder in den dunkelgrünen Uniformen an den Mietshäusern vorbei durch die Fulham Road marschieren sehen. Es hatte so etwas Gemeinschaftliches, Kameradschaftliches, und sie waren ihm um Jahre älter vorgekommen.
    Er hatte immer auf den unteren Stufen vor der Wohnung gesessen, wo er ganz allein mit seiner Mutter gelebt hatte. Seine Mutter hatte drinnen genäht.
    Sie hatte sehr viel genäht und es geschafft, damit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Er hörte immer noch die Kommentare ihrer »Damen«, wenn sie die Treppe hinuntertrippelten. Sie mußte wirklich eine sehr gute Schneiderin gewesen sein. Einige ihrer Kundinnen waren reich, die meisten so korpulent, daß sie auf geschickt drapierte, weit fallende dunkle Stoffe und einen guten Schnitt angewiesen waren. Seine Mutter mochte Schwarz sehr gern, auch für sich selbst, obwohl sie schlank und jung und hübsch war. Sie trug immer ein Armband aus Stecknadeln, ein kleines, weiches Kissen, aus dem die Nadeln hervorstaken und das an einem Band ums Handgelenk befestigt war. Er hatte immer an den Rücken eines Stachelschweins denken müssen.
    Morgens hatte er auf den Stufen gehockt und seinen Toast gegessen, nachmittags Zitronensaft getrunken und beobachtet, wie die Schulkinder auf dem Weg zur Boswell-Schule oben an der Ecke vorbeitrotteten. Die Welt der Boswell-Schule kam ihm wie verzaubert vor, die Schüler schienen einen magischen Zirkel zu bilden, in den er nicht eindringen durfte, weil er keine dieser Uniformen hatte.
    »Mum, wann darf ich in die Schule? Sag schon, Mum«, hatte er gedrängt, als verwehre ihm die Sturheit seiner Mutter und nicht das Erziehungssystem den Eintritt in den magischen Zirkel.
    Dann gab es wieder einmal große Ferien, und danach defilierten sie wieder in den dunkelgrünen Uniformen vorbei. Als Sechsjährigem erschienen ihm die Wochen zwischen den Ferien wie Jahre, und er konnte einfach nicht glauben, daß es immer noch nicht Zeit für ihn wurde, zur Schule zu gehen, nicht einmal, wenn die nächsten Ferien vorüber waren. Die Zeit dehnte sich in die Länge wie die selbstgemachten Karamelbonbons, die seine Mutter um den Türknauf schlang, damit er sie langziehen konnte. Danach schnitt sie sie in Stücke. Sie wurden zwar ganz dünn und schmal, rissen aber nie durch, sondern wurden immer länger. Wie die Zeit. Zwischen Pfingsten und irgendwann im Juli dachte er, nun müsse er doch um Jahre älter und viele Zentimeter gewachsen sein. »Mum, wann kann ich? Mum, bitte!«
    Daß er den Tag dort auf der Treppe absitzen mußte (so schien es ihm jedenfalls), war besonders schmerzlich, weil er sah, wie seine Herzallerliebste Elicia Deauville aus der Nachbarwohnung mit siebeneinhalb in ihrer neuen jägergrünen Uniform bei der Prozession mitmachen durfte. Wenn Elicia die Treppe hinunterstolperte und an ihm vorbeiflitzte, warf sie ihr langes, dichtes Haar beinahe Verächtlich zurück. Aber sie lächelte auch ein wenig, als falle selbst Ihr es schwer, die Haltung zu wahren, die die grüne Uniform zu Verlangen schien.
    Später sammelte er die Stecknadelstacheln von dem ausgebleichten Perser, auf dem seine Mutter vor der Schneiderpuppe kniete, um einen Saum abzustecken. Während er die Stecknadeln in das Stachelschweinarmband pikste, kam ihm eine schlaue Idee (fand er): Seine Mutter sollte ihm eine Schuluniform nähen!
    Und in der Uniform konnte er sich vielleicht heimlich in die Prozession schmuggeln, unter die Kinder mischen, und keiner würde es merken.
    »Mach mir eine Uniform, Mum!«
    Da ergab sich aber ein Problem (sagte seine Mutter). Was, wenn der Rektor ihn fragte, wieviel zwölf mal zweiundachtzig war? Was würde er dann sagen?
    Darauf wußte er keine Antwort.
    Oder wenn er ihn fragte, wie man »Agape« schrieb.
    Das Wort hatte er noch nie gehört, und noch weniger wußte er, wie man es schrieb. Er konnte ja sowieso kaum schreiben.
    »Was ist >Agape<, Mum?«
    Seine Mutter ließ von dem Saum ab und küßte ihn flüchtig auf die Wange. »Wahre Liebe, mein Junge, das ist es.«
    Nur kurze Zeit danach war spätabends die Bombe gefallen. Decke und Wände waren zusammengekracht und hatten seine Mutter unter
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