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Blind

Blind

Titel: Blind
Autoren: Joe Hill
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Frage.
    »Keiner von denen, die einen umhauen und auf der Stelle umbringen. Bei so einem wäre alles klar gewesen. Dein Vater wäre jetzt tot. Einer von diesen kleinen Aussetzern. Man kann nicht immer erkennen, wann ereinen von diesen kleinen gehabt hat. Besonders wenn er so ist wie im Moment, wenn er einfach nur in die Gegend schaut. Seit zwei Monaten hat er zu niemandem mehr ein Wort gesagt. Er wird überhaupt zu niemandem mehr ein Wort sagen.«
    »Ist er jetzt im Krankenhaus?«
    »Nein. Wir können uns hier genauso gut um ihn kümmern, vielleicht sogar besser. Ich bin ja immer hier, und Doktor Newland schaut jeden Tag vorbei. Wir können ihn aber auch ins Krankenhaus bringen. Wäre billiger, wenn das eine Rolle für dich spielt.«
    »Nein, tut es nicht. Die sollen ihre Betten lieber denen geben, die ohne Krankenhaus schlechter dran wären.«
    »Über das Thema will ich erst gar nicht mit dir streiten. Viel zu viele Leute, denen man sowieso nicht mehr helfen kann, sterben im Krankenhaus. Da fragt man sich wirklich, warum eigentlich.«
    »Was willst du jetzt machen? Ich meine, damit er wieder was isst. Was passiert jetzt?«
    Arlene schwieg einen Augenblick. Er hatte den Eindruck, dass die Frage sie überraschte. Als sie ihm antwortete, klang ihre Stimme auf eine sanfte Weise vernünftig und gleichzeitig entschuldigend. Es war die Stimme einer Frau, die einem Kind eine harte Wahrheit beibringen musste.
    »Nun, Justin, das ist deine Entscheidung, nicht meine. Wenn du willst, dann hängt Doktor Newland deinen Vater an den Tropf, dann geht es noch eine Zeit lang. Bis zum nächsten Aussetzer, nach dem er dann vielleicht nicht mehr weiß, wie man atmet. Oder wir lassen ihn einfach in Ruhe. Er ist fünfundachtzig, er wird sich nie mehr erholen, nicht in dem Alter. Es ist ja nicht so, dass man ihn um seine Jugend bringt. Er ist bereit loszulassen. Was ist mit dir?«
    Jude sagte nicht, was er dachte: dass er nämlich schon seit über vierzig Jahren bereit war loszulassen.
    Gelegentlich hatte er sich diesen Augenblick vorgestellt, und vielleicht war es nur recht und billig zuzugeben, dass er sogar mit offenen Augen davon geträumt hatte. Aber jetzt war der Augenblick da, und er stellte überrascht fest, dass er Bauchschmerzen bekam.
    Als er ihr antwortete, klang seine Stimme aber wieder ruhig und normal. »Einverstanden, Arlene. Keine Infusion. Wenn du sagst, dass die Zeit reif ist, reicht mir das. Halt mich auf dem Laufenden, okay?«
    Aber sie war noch nicht fertig mit ihm. Sie machte ein Geräusch, das sich wie ein ungeduldiges, scharfes Ausatmen anhörte, und sagte: »Kommst du runter?«
    Er stand vor Dannys Schreibtisch und runzelte verwirrt die Stirn. Ihre Unterhaltung war plötzlich ohne Vorwarnung von dem einen Thema zu einem anderen gesprungen wie eine Schallplattennadel von einem Titel zum nächsten.
    »Warum sollte ich?«
    »Vielleicht willst du ihn noch mal sehen, bevor er stirbt.«
    Nein. Seit drei Jahrzehnten hatte er seinen Vater nicht mehr gesehen oder sich im gleichen Raum mit ihm aufgehalten. Jude wollte den Alten nicht sehen, bevor der starb, und auch nicht danach. Er hegte nicht die geringste Absicht, zur Beerdigung zu gehen, auch wenn er für alles berappen musste. Jude hatte Angst vor den Gefühlen, die dabei aufkommen könnten – oder nicht aufkommen könnten. Er würde zahlen, was immer man von ihm verlangte, nur um seinen Vater nicht noch einmal sehen zu müssen. Das war das Beste, was man sich für Geld kaufen konnte: Abstand.
    Aber so wenig er Arlene das sagen konnte, so wenig konnte er ihr sagen, dass er schon seit seinem vierzehnten Lebensjahr auf den Tod des Alten wartete. Stattdessen sagte er: »Würde er überhaupt merken, wenn ich da wäre?«
    »Schwer zu sagen, was er noch mitkriegt und was nicht. Er spürt, wenn andere Menschen in seinem Zimmer sind. Die Augen bewegen sich, wenn Leute reinkommen und wenn sie wieder gehen. Allerdings nimmt er in letzter Zeit immer weniger auf. So ist das nun mal, wenn ein Licht nach dem anderen verlöscht.«
    Jude griff nach der bequemsten Lüge. »Ich kann nicht kommen. Diese Woche geht überhaupt nicht«, sagte er und hoffte, dass die Unterhaltung damit beendet war. Die Verabschiedungsfloskeln lagen ihm schon auf der Zunge, als er sich selbst mit einer Frage überraschte, von der er nicht mal gewusst hatte, dass sie in seinem Kopf gewesen war, bis er hörte, wie er sie laut aussprach.
    »Wird es hart werden?«
    »Das Sterben? Ach was. Wenn so ein alter
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