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Blicke windwärts

Blicke windwärts

Titel: Blicke windwärts
Autoren: Ian Banks
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die Begleitung von Wind fiel, schien der Natur zu trotzen; es war, als ob man einen Bildschirm mit abgeschaltetem Ton betrachtete, es war, als ob man taub wäre. Das war’s.
    Zufrieden stapfte Kabo auf dem Weg weiter, als eine Dachlawine von einem hohen Gebäude ganz in der Nähe abrutschte und mit einem dumpfen, aber deutlichen Plumps zu Boden fiel. Er blieb stehen und betrachte den länglichen weißen Haufen, den die Miniaturlawine geschaffen hatte, während noch ein paar letzte Flocken darum herum wirbelten; dann lachte er.
    Lautlos, um die Stille nicht zu stören.
    Endlich tauchten ein paar Lichter auf, von einem großen Kahn, der vier Schiffe entfernt hinter einer gemäßigten Biegung des Kanals lag. Und aus derselben Quelle stammte auch der schwache Hauch von Musik. Seichte, anspruchslose Musik, aber immerhin Musik. Ein harmloses Gedudel, eine Art Tonuntermalung oder ›Wartemusik‹. Kein Konzert.
    Das Konzert. Kabo fragte sich, warum er eingeladen worden war. Die Kontaktdrohne E. H. Tersono hatte Kabos Anwesenheit gefordert, und zwar mittels einer Nachricht, die er erst an diesem Nachmittag erhalten hatte. Sie war mit Tinte auf Karton geschrieben und von einer kleinen Drohne überbracht worden. Nun, eigentlich von einem fliegenden Tablett. Tatsächlich war es so, dass Mabo für gewöhnlich ohnehin regelmäßig Tersonos Achter-Tags-Konzerte zu besuchen pflegte. Dass er diesmal ausdrücklich dazu eingeladen wurde, musste etwas zu bedeuten haben. Sollte er darauf hingewiesen werden, dass er sich anmaßend verhalten hatte, indem er bei früheren Gelegenheiten einfach erschienen war, ohne ausdrücklich eingeladen gewesen zu sein?
    Das wäre verwunderlich, denn theoretisch waren diese Aufführungen für jedermann zugänglich – was war das nicht, theoretisch? –, doch das Gehabe von Kunstschaffenden, besonders von Drohnen, und ganz besonders von alten Drohnen, wie zum Beispiel E. H. Tersono, konnte Kabo immer wieder überraschen. Es gab keine Gesetze oder feste Regeln, doch jede Menge kleine… Verhaltensrichtlinien, Maßstäbe für gute Sitten, höfliches Benehmen. Außerdem wurde alles, dieses und jenes, das Triviale wie das Gewichtige, von der Mode bestimmt.
    Das Triviale: Diese auf Papier geschriebene Nachricht, überbracht auf einem Tablett – bedeutete das, dass jetzt alle dazu übergingen, Einladungen und alltägliche Mitteilungen physisch von einem Ort zum anderen zu bewegen, anstatt solche Dinge auf dem normalen Weg zu übertragen, direkt an das Haus des Betreffenden, an den Familiar, an die Drohne, an dessen Terminal oder Implantat? Was für eine abwegige Vorstellung, eine schrecklich ermüdende Prozedur! Und trotzdem war das vielleicht genau die Art von nostalgischer Gefühlsduselei, der man sich neuerdings vielleicht mit Wonne hingab, zumindest für eine Saison oder so – (höchstens!).
    Das Gewichtige: Sie lebten oder starben ganz nach Lust und Laune! Einige mehr oder weniger Prominente verkündeten, sie würden einmal leben und für immer sterben, und Millionen folgten ihrem Beispiel; dann entstand irgendwann ein neuer Trend bei den Meinungsbildern, indem sich die Leute Ersatzteile beschafften und ihre Körper runderneuern ließen oder dafür sorgten, dass Körperteile nachwuchsen, oder sie ließen ihre Persönlichkeit in androide Repliken oder noch abartigere Schöpfungen transformieren oder… nun, nichts war unmöglich, es gab keinerlei Beschränkungen. Entscheidend war, dass ein bestimmtes Denken und Handeln Mode war, dann machte es die Menge nach.
    War das die Art von Verhalten, die man von einer reifen Gesellschaft erwarten durfte? Sterblichkeit als Lifestyle-Variation? Kabo wusste, welche Antwort sein Volk darauf geben würde. Das war Wahnwitz, kindisches Gebaren, eine Missachtung des eigenen Ichs und des Lebens an sich, eine Art von Häresie. Er selbst war jedoch auch nicht ganz über derlei Dinge erhaben, was einerseits ein Zeichen dafür sein mochte, dass er schon zu lange hier war, oder andererseits, dass er ein erschreckend empathisches Verhalten der Kultur gegenüber an den Tag legte, welches auch der Grund dafür war, dass er überhaupt jetzt hier war.
    Während er also über die Stille, die Festlichkeit, die verschiedenen Moderichtungen und seinen eigenen Platz in der Gesellschaft nachgrübelte, gelangte Kabo zu dem kunstvoll geschnitzten Steg, der vom Kai in die sanft beleuchtete Extravaganz aus vergoldetem Holz führte, die der alte Zeremonienkahn Soliton darstellte. Hier war der
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