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Blankes Entsetzen

Blankes Entsetzen

Titel: Blankes Entsetzen
Autoren: Hilary Norman
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stellte sein Bier ab und bückte sich, um das Baby hochzuheben.
    »Stütz ihren Kopf«, sagte Nicola.
    »Er weiß das«, sagte Joanne.
    »Natürlich weiß ich das«, erklärte Tony. »Ich übe schließlich schon lange genug.«
    »Der Trinkspruch«, erinnerte Paul ihn.
    Tony räusperte sich. »Auf unsere Tochter.«
    »Ist das alles?«, fragte Paul.
    Tony ignorierte ihn. »Es hat viel Zeit und viele Mühen gekostet«, fuhr er fort. »Wobei Mühen eigentlich nicht ganz das richtige Wort ist, stimmt’s, Jo?«
    Joanne schüttelte den Kopf. Tränen traten ihr in die Augen.
    »Weil uns nichts zu viel gewesen wäre, um diesen Moment zu erleben. Um dieses kleine Würmchen nach Hause zu bringen, wo es hingehört.« Tony hielt inne. »Unsere Irina.«
    Sie hatten die Gesetze sowohl in ihrem eigenen Land als auch in Irinas Heimat gebrochen – und soweit sie wussten auch alle möglichen internationalen Gesetze –, aber das interessierte Tony und Joanne schon lange nicht mehr. Ihnen war nur wichtig, dass man ihnen nicht auf die Schliche kam und dass sie Irina wie eine eigene Tochter bei sich behalten und großziehen könnten. Zur Hölle mit dem Gesetz.
    Joannes Motive waren schlicht und einfach gewesen. Seit Jahren sehnte sie sich nach einem Kind – ein Wunsch, den die Unfruchtbarkeit ihres Mannes durchkreuzt hatte. Schließlich war sie so sehr daran verzweifelt, dass sie fast alles getan hätte, um Mutter zu werden. Tonys Motive waren nicht so klar umrissen. Er litt unter seinem Versagen, denn als solches empfand er ihre Kinderlosigkeit. Und egal wie oft Joanne das Gegenteil beteuerte, betrachtete er ihren Kummer inzwischen als stillen Vorwurf. Die Vorstellung, einen Samenspender heranzuziehen, kränkte ihn, und als er nach einem langen Gewissenskampf zugestimmt hatte, ein Baby zu adoptieren, hatte ihn die intensive und äußerst persönliche Befragung durch die Behörden rasch abgeschreckt.
    »Die lassen uns niemals ein Kind adoptieren«, sagte er unverblümt zu Joanne, nachdem er einen der ersten Termine wahrgenommen hatte. »Nicht, sobald sie mein Strafregister in die Hände bekommen.«
    »Aber das ist doch schon lange her«, sagte seine Frau.
    »Ich war Trinker und habe andere Menschen geschlagen«, sagte Tony in ungewohnt nüchterner Selbsteinschätzung.
    »Mich hast du nie geschlagen«, sagte Joanne.
    »Und ich wäre ein verdammt guter Vater«, fügte Tony hinzu. »Aber trotzdem bin ich vorbestraft.«
    »Und was, wenn wir einfach selbst damit herausrücken, es ihnen gleich sagen?«, schlug Joanne vor. »Bevor sie es herausfinden. Wir könnten sagen, dass du seit Jahren keinen Alkohol angerührt hast.«
    »Das wäre eine Lüge.«
    »Na und? Das macht mir nichts.«
    »Mir auch nicht«, sagte Tony. »Aber ich muss nichts weiter tun als rüber ins Crown and Anchor gehen, und schon wissen die Behörden, was läuft.«
    Sie hatten fast schon aufgegeben, doch dann sahen sie eines Abends, ein paar Monate nach diesem Gespräch, die Wiederholung einer Fernsehsendung über rumänische Waisen in der Nach-Ceausescu-Ära. Schon während sie zuschauten, war Joanne überrascht, dass Tony – der Dokumentationen hasste – weder umgeschaltet hatte noch aufgestanden war, um sich ein Bier zu holen.
    Erst hinterher, als die Sendung zu Ende war, öffnete er eine Dose und leerte sie bis auf den letzten Tropfen. Dann setzte er sich wieder neben Joanne aufs Sofa und nahm ihre Hand.
    »Warum nicht wir?«, fragte er.
    »Was?«
    »Das.« Er nickte in Richtung Fernseher. »Das könnte es doch sein. Vielleicht bekommst du auf diesem Weg, was du dir mehr als alles andere wünschst. Und ich auch.«
    »Aber all die Bewertungsverfahren und diese Dinge«, erinnerte Joanne ihn. »Du hast das alles doch so schrecklich gefunden.«
    »Das hier läuft vielleicht anders. Schließlich würden wir einem dieser armen kleinen Babys helfen, oder nicht? Wir würden es aus einem dieser verdammten Löcher holen. Vielleicht stellen die Leute dort sich nicht so an.«
    »Ich weiß nicht, Tony.«
    »Denk darüber nach, Schatz«, sagte er. »Ein eigenes Baby. Und wir würden einem Kind helfen.« Er hielt inne. »Vielleicht würde ich mich sogar wieder wie ein richtiger Mann fühlen.«
    »Du warst immer ein richtiger Mann«, sagte Joanne leise.
    Schon in ihrer nächsten Mittagspause nahm sie die Recherchen auf. Sie ging in die Bibliothek unweit ihres Baugenossenschaftsbüros und fand – so mühelos, dass Tony später sagte, es sei Schicksal gewesen, dass sie diese Sendung
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