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Blankes Entsetzen

Blankes Entsetzen

Titel: Blankes Entsetzen
Autoren: Hilary Norman
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Nähe von Walthamstow – zum ersten Mal ihr Baby nach Hause, in ihr Reihenhaus in Chingford Hatch.
    Das Kind hieß Irina, eine drei Monate alte rumänische Waise, und ihre Heimkehr wurde von ihren verzückten Adoptiveltern, den Nachbarn Paul und Nicola Georgiou und Irinas überglücklicher, frischgebackener Großmutter Sandra Finch gefeiert.
    »Ist sie nicht das schönste Baby, das du je gesehen hast?«, gurrte Sandra über die Schulter ihrer Tochter, während Joanne das kleine Mädchen in den Armen hielt.
    »Ihre Augen sehen aus wie schwarze Kirschen!«
    »Sie sind sogar noch dunkler als meine«, sagte Paul Georgiou zu seiner Frau.
    »Es sind kluge Augen«, sagte Tony.
    »Und ihre Hände sind so winzig«, staunte Joanne.
    »So zarte Finger«, sagte Tony.
    Irina strampelte mit ihren bestiefelten Füßchen.
    »Vielleicht wird sie mal Ballerina«, sagte ihr neuer Vater.
    »Oder Fußballerin!« Paul lachte.
    Tony warf seinem Nachbarn einen leicht mürrischen Blick zu, kippte den Rest seines Champagners herunter und ging sich eine Dose Foster’s von der Ikea-Anrichte holen.
    »Mir ist es egal, was Irina später einmal tut«, sagte Joanne,
    »solange sie nur gesund und glücklich ist.«
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    »Genau«, stimmte Nicola zu.
    »Ich kann es noch gar nicht glauben«, sagte Sandra.
    »Mein erstes Enkelkind.« Sie beugte sich vor, um Irinas dunkle Haare zu streicheln. »Ich freue mich so sehr für dich, Joanne.«
    »Und was ist mit mir?«, fragte Tony. »Ich meine, ich hatte schließlich auch damit zu tun.«
    »Natürlich«, sagte seine Schwiegermutter. »Ich freue mich für euch beide.«
    »Wie wäre es mit einem Trinkspruch?«, schlug Paul vor und hob sein Lagerbier.
    »Tony?« Joanne sah ihren Mann an.
    »Gib sie mir.« Tony stellte sein Bier ab und bückte sich, um das Baby hochzuheben.
    »Stütz ihren Kopf«, sagte Nicola.
    »Er weiß das«, sagte Joanne.
    »Natürlich weiß ich das«, erklärte Tony. »Ich übe schließlich schon lange genug.«
    »Der Trinkspruch«, erinnerte Paul ihn.
    Tony räusperte sich. »Auf unsere Tochter.«
    »Ist das alles?«, fragte Paul.
    Tony ignorierte ihn. »Es hat viel Zeit und viele Mühen gekostet«, fuhr er fort. »Wobei Mühen eigentlich nicht ganz das richtige Wort ist, stimmt’s, Jo?«
    Joanne schüttelte den Kopf. Tränen traten ihr in die Augen.
    »Weil uns nichts zu viel gewesen wäre, um diesen Moment zu erleben. Um dieses kleine Würmchen nach Hause zu bringen, wo es hingehört.« Tony hielt inne. »Unsere Irina.«
    Sie hatten die Gesetze sowohl in ihrem eigenen Land als auch in Irinas Heimat gebrochen – und soweit sie wussten auch alle möglichen internationalen Gesetze –, aber das interessierte Tony 35
    und Joanne schon lange nicht mehr. Ihnen war nur wichtig, dass man ihnen nicht auf die Schliche kam und dass sie Irina wie eine eigene Tochter bei sich behalten und großziehen könnten. Zur Hölle mit dem Gesetz.
    Joannes Motive waren schlicht und einfach gewesen. Seit Jahren sehnte sie sich nach einem Kind – ein Wunsch, den die Unfruchtbarkeit ihres Mannes durchkreuzt hatte. Schließlich war sie so sehr daran verzweifelt, dass sie fast alles getan hätte, um Mutter zu werden. Tonys Motive waren nicht so klar umrissen.
    Er litt unter seinem Versagen, denn als solches empfand er ihre Kinderlosigkeit. Und egal wie oft Joanne das Gegenteil beteuerte, betrachtete er ihren Kummer inzwischen als stillen Vorwurf. Die Vorstellung, einen Samenspender heranzuziehen, kränkte ihn, und als er nach einem langen Gewissenskampf zugestimmt hatte, ein Baby zu adoptieren, hatte ihn die intensive und äußerst persönliche Befragung durch die Behörden rasch abgeschreckt.
    »Die lassen uns niemals ein Kind adoptieren«, sagte er unverblümt zu Joanne, nachdem er einen der ersten Termine wahrgenommen hatte. »Nicht, sobald sie mein Strafregister in die Hände bekommen.«
    »Aber das ist doch schon lange her«, sagte seine Frau.
    »Ich war Trinker und habe andere Menschen geschlagen«, sagte Tony in ungewohnt nüchterner Selbsteinschätzung.
    »Mich hast du nie geschlagen«, sagte Joanne.
    »Und ich wäre ein verdammt guter Vater«, fügte Tony hinzu.
    »Aber trotzdem bin ich vorbestraft.«
    »Und was, wenn wir einfach selbst damit herausrücken, es ihnen gleich sagen?«, schlug Joanne vor. »Bevor sie es herausfinden. Wir könnten sagen, dass du seit Jahren keinen Alkohol angerührt hast.«
    »Das wäre eine Lüge.«
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    »Na und? Das macht mir nichts.«
    »Mir auch nicht«, sagte Tony.
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