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Black Box

Black Box

Titel: Black Box
Autoren: Joe Hill
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dieses Geschäft. Sie wohnt direkt um die Ecke. Der Beamte nimmt ihren Arm, bevor ihre Knie nachgeben.
    Voller Verzweiflung schreibt sie auf, was sie dem Beamten sagen will, versucht ihm zu erklären, was der Riese ihr damals mit siebzehn angetan hat. Ihr Stift kann mit ihren Gedanken nicht mithalten, und das, was sie aufschreibt, ergibt auch für sie kaum einen Sinn, doch der Beamte versteht, worauf es ankommt. Er führt sie zum Beifahrersitz auf der anderen Seite und öffnet ihr die Tür. Bei der Vorstellung, in dasselbe Auto zu steigen wie ihr Entführer, wird ihr schwindlig vor Angst und sie fängt an zu zittern. Aber der Polizist weist sie darauf hin, dass der Riese, der mit Handschellen gefesselt auf der Rückbank sitzt, ihr nichts tun könne – es sei wichtig, dass sie ihn aufs Revier begleite.
    Schließlich lässt sie sich auf den Beifahrersitz fallen. Zu ihren Füßen liegt eine Winterjacke. Der Beamte sagt, es sei seine und sie solle sie doch anziehen, damit sie nicht mehr so zittere. Sie blickt zu ihm hoch, will ein Dankeschön auf den Zettel kritzeln – verkrampft sich dann jedoch und stellt fest, dass sie nicht schreiben kann. Der Anblick ihres Gesichts, das sich in seinen Brillengläsern spiegelt, lässt sie erstarren.
    Er geht nach vorn, um die Motorhaube zu schließen. Mit tauben Fingern greift Cate nach unten, um die Jacke aufzuheben. Vorn sind auf beiden Seiten zwei Smiley-Buttons angeheftet. Sie will die Tür öffnen, aber die ist verriegelt. Das Fenster ebenso. Die Motorhaube knallt zu. Der Mann hinter der Sonnenbrille ist kein Polizeibeamter. Er schenkt ihr ein entsetzliches Grinsen. Buttonboy geht um den Wagen herum, an der Fahrertür vorbei und öffnet dem Riesen die Tür. Schließlich braucht man Augen, um fahren zu können …
    Im dichten Wald verirrt man sich leicht, und dann läuft man immer im Kreis. Gate wird zum ersten Mal klar, dass ihr genau das passiert ist. Zwar konnte sie Buttonboy und dem Riesen entwischen, indem sie in den Wald gerannt ist, aber sie hat nie wirklich den Weg hinausgefunden. Von Anfang an ist sie in dieser Dunkelheit herumgestolpert und in einem großen, sinnlosen Bogen letztlich zu ihnen zurückgekehrt. Jetzt ist sie da angekommen, wo sie eigentlich immer hinwollte, und dieser Gedanke macht ihr auf einmal keine Angst mehr, sondern ist sogar sonderbar beruhigend. Sie hat den Eindruck, dass sie zu den beiden gehört, und das verschafft ihr einige Erleichterung; irgendwohin muss sie ja gehören. Cate lehnt sich entspannt zurück und wickelt sich, ohne darüber nachzudenken, in Buttonboys Jacke, damit sie nicht friert.
     
    Eddie Carroll wunderte sich nicht, dass Noonan ins Kreuzfeuer der Kritik geraten war, nachdem er »Buttonboy« veröffentlicht hatte. Die Erzählung schilderte Szenen weiblicher Erniedrigung, und die Heldin wurde so beschrieben, als wäre sie an ihrem emotionalen, sexuellen und geistigen Missbrauch nicht ganz unschuldig. Das war heftig – aber auch Joyce Carol Oates hatte vergleichbare Geschichten für Zeitschriften geschrieben, die sich von The True North Literary Review kaum unterschieden, und sie hatte dafür Preise bekommen. Nein, die wirklich unverzeihliche literarische Todsünde war das schockierende Ende.
    Carroll hatte es kommen sehen. Nachdem er fast zehntausend Horrorgeschichten gelesen hatte, war es schwer, ihn auf dem falschen Fuß zu erwischen. Aber es hatte ihm gefallen. Unter Literaturkennern dagegen galt ein überraschendes Ende, egal, wie gut es durchdacht war, als Zeichen einfältiger, kommerzieller Texte oder schlechter Filme. Bei den Lesern von The True North handelte es sich vermutlich um Akademiker mittleren Alters, die Seminare über Grendel und Ezra Pound hielten und davon träumten, irgendwann einmal ein Gedicht an den New Yorker zu verkaufen. In einer Kurzgeschichte auf ein so schockierendes Ende zu stoßen, war für sie dasselbe wie eine Ballerina, die während einer Aufführung einen lauten Furz ließ – ein so fürchterlicher Fauxpas, dass er fast schon komisch war. Entweder wohnte Professor Harold Noonan noch nicht lange genug im Elfenbeinturm, oder er hatte im Stillen gehofft, dass ihm jemand seine Entlassungspapiere in die Hand drücken würde.
    Obwohl das Ende eher einem John Carpenter als einem John Updike entsprach, war Carroll in letzter Zeit auch in den einschlägigen Horror-Magazinen auf nichts Vergleichbares gestoßen. Die fast völlig naturalistische Geschichte beschrieb auf fünfundzwanzig Seiten eine
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