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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom
Autoren: Martin Keune
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die Brüder jetzt auch einen Bogen um ihn; er war, solange er mit seinem eigenen, schnurrbartlosen Gesicht auftauchte, zu bekannt in der Femina, um als Opfer eines Taschendiebstahls oder eines kleinen Trickbetruges infrage zu kommen. Sexuelle Avancen machte ihm von diesen Burschen auch keiner. Mit Bullen bumst man nicht: Das war vielleicht eine sehr kategorische Haltung, aber Sándor war es ganz recht so.
    Von seiner zweiten Existenz oben im Scheinwerferlicht hatte keiner der Eintänzer eine Ahnung. Verrückt genug, dass die ganze Bande sich von dem albernen roten Bühnenschnurrbart so blenden ließ und er nie mit dem Jazzklarinettisten in Julian Fuhs’ »Follies Band« in Zusammenhang gebracht wurde; allerdings hatte er selbst schon die Erfahrung gemacht, dass es Menschen gab, die mit jedem Haarschnitt und unter beliebigen Maskierungen doch immer nur als sie selbst erkennbar waren, während andere schon mit einem blauen Auge und erst recht mit einem falschen Schnurrbart sogar von ihrem eigenen Spiegelbild nicht mehr gegrüßt wurden. Er war so ein Glückspilz. Seine Visage war derart markant, dass man sie mit nichts und niemand anderem verwechseln zu können glaubte – und doch reichte eine kleine Unterbrechung dieses expressiven Looks, um unsichtbar zu werden. Es war frappierend und riskant, aber es funktionierte. Und Unsichtbarkeit war die beste Voraussetzung für das Doppelleben, das er nun schon eine Weile führte.
    Die Rohrpost und die Tischtelefone hatten den Betrieb aufgenommen; Rasseln und Rauschen mischten sich unter das Stimmengewirr und die Harfenmusik. Ohne diese technischen Sensationen konnte man heutzutage kein Vergnügungslokal mehr betreiben; das Resi – das Ballhaus im Residenz-Casino in der Blumenstraße 10 – gab den Takt vor, in dem in Berlin die Unterhaltungstechnik ihre Triumphe feierte, und alle ahmten nach, was im Resi die Massen begeisterte. 20.000 Glühbirnen illuminierten dort die endlos langen Festsäle; 1927 hatte das Resi die Tischtelefone eingeführt; heute konnte außerdem mit Lichtsignalen die Gemütsverfassung des werten Saalgastes signalisiert werden: War man sich selbst genug (blau), oder sehnte man sich nach Gesellschaft (rot)?
    Â»Der Herr drüben an Tisch 26, hat der Interesse, oder ist er blau?«
    Letztes Jahr, 1929, hatte das Resi die Saalrohrpost in Betrieb genommen; ein technisches Wunder auch dies. Die Femina hatte auf den letzten Metern noch versucht, den Konkurrenten zu überflügeln, und bei Mix & Genest ebenfalls 16 Stationen bestellt, aber das Resi war wie immer schneller gewesen. Doch auch die 16 Stationen in der Femina sorgten bei den Nutzern für Begeisterung. Ein Bastkörbchen mit Pralinen für Tisch 12, ein Photomaton-Porträt des eigenen Konterfeis als bildhafte Bewerbung bei der kühlen Schönheit von Tisch 4: Die Rohrpost war ein Heidenspaß.
    Sándor schüttelte den Kopf. Warum sollte man ein Foto von sich durch die Rohrpost jagen, wenn man selbst die paar Schritte zum Tisch der Dame gehen und sein Anliegen kurzerhand vortragen konnte? Er selbst brauchte solche Spielereien nicht, und die Damen, die er hier in der Femina oder auf all den anderen Stationen seiner meist auf die neuen, westlichen Vergnügungsviertel konzentrierten nächtlichen Streifzüge kennenlernte, wollten auch lieber von seinen geübten Händen berührt, von seinem trockenen, warmen Atem gestreift werden als von einem Stück Blechrohr.
    Er sah sich um. Ja, verdammt, es gab erbärmlichere Ecken in dieser unglaublich großen Stadt. Irgendwo schickten Mütter ihre kleinen Töchter auf den Strich, irgendwo verhungerte ein Veteran aus dem Franzosenkrieg in einer fensterlosen Dachkammer, und irgendwo salutierten stramme junge Männer vor Befehlshabern, die schon jetzt kein Reichspräsident und keine Reichstagswahl mehr dauerhaft an ihrem fanatischen Machtstreben hindern konnten. War das wichtig für ihn? Er war froh, kein Kommunist zu sein, weil denen die Zähne eingeschlagen wurden. Und ob die Juden sich noch lange mit ihrer zur Schau getragenen Ehrbarkeit gegen all die Anschuldigungen würden behaupten können, musste sich erst noch zeigen. Aber er selbst, Sándor Lehmann, Nichtkommunist, Nichtjude, er war da, wo er hingehörte, und solange er sich in die Politik nicht einmischte und jeden Morgen eine frische Unterhose anzog, konnte er alles tun, wonach ihm gerade der Sinn
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