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Black Bottom

Black Bottom

Titel: Black Bottom
Autoren: Martin Keune
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stand.
    Sándor ließ noch einmal den Blick über die angeregte Menschenmenge und das erfreulich minimalistische Rückendekolleté der Harfinistin gleiten, schob das leere Escorialglas mit einem knappen Schwung über den polierten Steintresen und verschwand dann unbemerkt in einem Personaleingang, der neben den Toilettentüren zu den Künstlergarderoben führte.
    Eine halbe Stunde später waren sie auf der Bühne. Der schmalzige Jargonsänger im Erdgeschoss und die kurzen Revueeinlagen hatten das Publikum in eine fiebernde Vorfreude versetzt; jetzt wollte man tanzen. Julian Fuhs ließ sich nicht bitten und eröffnete den Set gleich mit einem feurigen »Black Bottom« – dem Modetanz der letzten Saison, der mit seinem stampfenden Rhythmus und dem anzüglichen Aneinanderstoßen der Hinterteile, dem »Bump«, sogar dem Charleston den Rang abgelaufen hatte und auch ein paar Jahre nach seiner Erfindung in Harlem noch die Berliner Tanzwütigen elektrisierte. Es folgten zwei, drei andere Up-Tempo-Nummern, die die Tanzfläche füllten und die Raumtemperatur fühlbar anhoben.
    Als Fuhs eine ausgelassene halbe Stunde später das Tempo langsam herunterfuhr, ging mit einem fauchenden Klatschgeräusch der fette Suchscheinwerfer an, und der Lichtmeister dämpfte die Deckenbeleuchtung im Tanzsaal der Femina. Arno Lewitsch, der Geigenspieler, und Sándor standen allein im Scheinwerferkegel. Eine Geige in einer Hot-Jazz-Kapelle: Das war auch eins der amerikanischen Souvenirs, die Julian geschickt in sein Showprogramm hineinbastelte. Eine Violine stand für Gefühl, für Sentimentalität, und der Kontrast zum beschwingt grummelnden Bass und den schmetternden Fanfaren der drei Saxofonisten war beträchtlich. »You’re the only one for me, I’m lost without you«: Was als sehnsuchtsvoll schunkelnder Foxtrott begonnen hatte, schmolz weg zu einer sentimentalen Ballade, bei der die Paare auf der Tanzfläche im plötzlichen Dunkel näher zusammenrückten und Lewitschs Geige und seine eigene Klarinette sich in einer intimen Zwiesprache aneinanderschmiegten. Das war heikel; Schiebertänze waren in den meisten Etablissements verboten, und die Sitte war das Letzte, womit die von behördlichen Auflagen und gesetzlichen Einschränkungen sowieso schon gebeutelten Tanzsaalbesitzer zu tun bekommen wollten. Trotzdem – das Publikum wollte Knutschpausen, wenigstens zwei, drei schwelgerische Minuten, bevor der Schlagzeuger und das Blechbläsertrio das Tempo wieder anzogen und die Scheinwerfer die Tanzfläche bis in den letzten Winkel ausleuchteten.
    Arno ließ es sich nicht nehmen, noch ein bisschen Schattenspiel zu machen und die Rundungen der Violine zusammen mit seiner eigenen, frackbeschoßten Silhouette im Schlagschatten des Lichtkegels zu einer aufreizenden Frauenfigur zu komponieren, die dem mit sich selbst beschäftigten Publikum wie immer entging. Schließlich öffnete die elektrisch betriebene Hydraulik geräuschlos das gewaltige Schiebedach, das den ganzen Ballsaal überspannte, und unter den Begeisterungsseufzern der Tanzenden wurde der Himmel sichtbar, der zwischen den abziehenden Regenwolken von einer Unzahl von Sternen perforiert war.
    Sándor schloss die Lider und überließ die Klarinette ihrem eigenen trudelnden Flug, und als er die Augen wieder aufschlug, begegnete er dem Blick von Bella, die seitlich neben der Bühne auf ihren eigenen Einsatz wartete und in diesem Moment jeden Spott und jede Distanziertheit verloren hatte und ihn nur lange und mit fast traurigen Augen ansah.
    Hinter Bella zündete im Publikum jemand eine Zigarette an in einer kurzen silbernen Zigarettenspitze, und die Zündhölzer beleuchteten ein ungerührtes, jungenhaftes Gesicht, eine pausbäckige Visage, die Sándor Lehmann den Schweiß auf die Schläfen trieb. Der Mann hinter Bella war ihm nicht unbekannt – und es war keiner der Kleinkriminellen und Hehler, über die er hier in der westlichen Stadthälfte mit intrigantem Geschick regierte. Der Mann war Belfort, Kriminalkommissar wie er selbst, ein neuer Kollege in derselben Abteilung, als Aufpasser oder Konkurrent abgestellt von ganz oben. Von oben – oder von noch weiter oben. Sándors Solo schmierte irritiert ab, aber Belfort hatten die Töne des Musikers mit dem gigantischen roten Schnurrbart sowieso nicht erreicht; er schien aus einem anderen Grund
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