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Bis zum Horizont

Bis zum Horizont

Titel: Bis zum Horizont
Autoren: Richard Paul Evans
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Latein?«, fragte ich.
    »Ein wenig«, sagte sie. »Ich hatte Latein auf der Highschool.« Mir fiel auf, dass sie keinen Kommentar zu dem Zitat oder seiner Botschaft abgab. Sie legte ihren Mantel ab.
    »Ihre Familie muss sich fragen, warum Sie in letzter Zeit so oft außer Haus sind«, sagte ich.
    »Es gibt keine Familie«, sagte sie. »Nur mich.«
    »Na ja, dann müssen Ihre Freunde sich fragen, was Sie heimlich so treiben.«
    Ein sardonisches Grinsen huschte über ihr Gesicht. »Es gibt niemanden, der eine Vermisstenanzeige aufgibt, falls Sie das meinen. Ich bin gewissermaßen eine Einzelgängerin.«
    Ich sah sie fragend an. »Ich hätte Sie niemals für eine Einzelgängerin gehalten.«
    »Warum nicht?«
    »Sie sind ein sehr freundlicher, liebenswürdiger Mensch. Das passt nicht zusammen.«
    »Dasselbe könnte ich von Ihnen sagen.«
    »So etwas kommt vor.«
    »Genau«, erwiderte sie, »so etwas kommt vor.« Sie sah mich an. »Ich habe über diesen Ring nachgedacht, nach dem Sie gesucht haben. Haben Sie Ihre Frau geliebt?«
    »Ja.«
    »Es tut mir leid.«
    »Mir auch.«
    Sie legte mir eine Hand auf den Arm. »Ich weiß, es ist eine dumme Frage, aber kann ich irgendetwas für Sie tun?«
    »Ich wünschte, das könnten Sie.« Einen Augenblick später fragte ich: »Waren Sie je verheiratet?«
    Sie zögerte. »Nein.«
    »Sind Sie aus Spokane?«
    »Ich bin hier geboren. Aber meine Familie ist nach Minnesota gezogen, als ich acht war. Vor ein paar Monaten wurde mir hier ein Job angeboten, und ich habe beschlossen, wieder hierher zu ziehen.«
    »Und wie ist die Arbeit in der Polizeizentrale?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »Es ist nicht langweilig, aber es ist deprimierend. Es kommt mir vor, als ob ich den ganzen Tag immer nur die schlechteste Seite der Menschheit sehe.«
    »So habe ich das noch nie betrachtet. Aus welcher Ecke Minnesotas kommen Sie denn?«
    »Aus Wayzata, einer Stadt am Minnetonka-See.«
    »Ich war noch nie in Minnesota. Ich habe gehört, es soll wunderschön sein.«
    »Es ist kalt«, sagte sie knapp. »Sehr kalt.«
    Nach ihrer Miene zu urteilen, sprach sie nicht nur vom Wetter.

Sechstes Kapitel
    Auf dem College habe ich einmal einen Kurs in Sozialpsychologie belegt. Ich dachte, das würde für eine Karriere in der Werbung hilfreich sein. Psychologen sind in einem Experiment der Geschichte des barmherzigen Samariters auf den Grund gegangen. Was sie herausfanden, sollte uns zum Nachdenken bringen. Entscheidend dabei, wer anhielt, um dem Fremden in Not zu helfen, war nicht Mitleid, Moral oder religiöse Überzeugung. Es waren diejenigen, die die Zeit dafür hatten. Und so frage ich mich, ob ich die Zeit habe, Gutes zu tun. Engel hat sie offenbar.
    Alan Christoffersens Tagebuch
    Als Norma am nächsten Morgen mit meinem Krankenblatt ins Zimmer kam, las ich die Zeitung und testete unterdessen meine Beine. Ich hob erst das eine, dann das andere Bein hoch und hielt es in der Luft, solange ich konnte. Der Zeitraum ließ sich bedauerlicherweise in Mikrosekunden messen.
    »Hi«, sagte sie. Sie sah ein wenig gestresst aus.
    Ich legte die Zeitung hin. »Wie geht es Ihnen heute?«, fragte ich.
    »Gut. Die 100 000-Dollar-Frage ist: Wie geht es Ihnen?«
    »Ich bin noch immer hier.«
    »Haben Sie es schon gehört …?« Sie zögerte. »Der Junge ist gestorben.«
    »Wer?«
    »Der Junge, der Sie mit dem Messer angegriffen hat.«
    Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« Ich wusste nicht, wie ich auf diese Nachricht reagieren sollte. Ich wusste nicht einmal, was ich empfinden sollte. Rachegefühle, Gerechtigkeit, Mitleid, Traurigkeit? Die Wahrheit war, ich fühlte gar nichts.
    Einen Augenblick später sagte sie: »Die Ärztin wird heute Nachmittag nach Ihnen sehen.«
    »Erfahre ich dann endlich, wann ich das Krankenhaus verlassen kann?«
    »Ich denke schon.« Sie überprüfte einen meiner Monitore, dann fragte sie: »Sind Sie bereit, es noch einmal mit dem Gehen zu versuchen?«
    »Na klar«, sagte ich.
    »Ich muss noch nach ein paar anderen Patienten sehen, dann komme ich wieder zu Ihnen.« Sie ging hinaus.
    Ich lehnte mich zurück und seufzte. Ich fühlte mich nicht besser als zuvor.
    Eine halbe Stunde nach dem Frühstück kam Norma wieder in mein Zimmer, den Gehgurt in der Hand. »Los geht’s.«
    Nachdem sie meinen Katheter abgeklemmt hatte, setzte ich mich auf und schwang die Beine ein bisschen zu schnell über die Bettkante. Ich biss vor Schmerz die Zähne zusammen.
    »Augenblick«, sagte Norma. »Bevor Sie es noch einmal
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