Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
in Schwierigkeiten kommen«, so seine Formulierung.
    Sie unterhielten sich darüber, ob er Miss Wurtz von den
Prostituierten erzählen solle. Jack brannte darauf, Caroline Bericht zu
erstatten und ihr alles zu erzählen. (»Vielleicht nicht alles«, mahnte ihn
Heather. »Vielleicht hebst du dir das mit den Prostituierten für ein späteres
Gespräch auf.«)
    Sie waren sich darüber einig, daß Hugo, nachdem er einen Teil seines
einen Ohrs in einem Nachtclub an einen Hund verloren hatte, kaum etwas
Absurderes hätte tun können, als sich einen goldenen Ring an sein verbleibendes
Ohrläppchen zu hängen. »Glaubst du, er will auf das Ohrläppchen aufmerksam
machen, das ihm der Hund abgebissen hat?« fragte Heather.
    »Er hätte den Ohrring oben in das beschädigte Ohr stecken und im
anderen gar nichts tragen können«, meinte Jack.
    Heather überlegte, ob sich Jack die Prostituierten, die ihr Vater
regelmäßig aufsuchte, einmal ansehen könne – das heißt, falls [1129]  Hugo sie ihm
vorstellen würde. »Nur um festzustellen, ob sie nett sind, und sie zu bitten,
daß sie nett zu ihm sind«, sagte sie.
    »Er hat schon jetzt sehr wenig Privatsphäre«, sagte Jack. Sie
stimmten darin überein, daß man den Menschen, die man liebte, eine Privatsphäre
zugestehen müsse, selbst wenn man um ihre Sicherheit fürchte.
    »Findest du sie nicht alle großartig?« fragte sie ihn. »Ich meine
seine Ärzte – sogar Professor Ritter.«
    »Na ja…«, fing Jack an, sagte dann aber: »Doch, ja!«
    »Rufst du mich jeden Tag an?« fragte seine Schwester.
    »Aber sicher! Wenn ich es vergesse, kannst du mich per R-Gespräch
anrufen«, sagte er.
    Sie weinte erneut. »Ich glaube, du hast mich gekauft, Jack. Ich habe
mich komplett an dich verkauft!« rief sie.
    »Ich liebe dich, Heather.«
    »Ich liebe dich und jeden Zentimeter deiner Haut«, sagte sie.
    Jack erzählte ihr, daß sich ihr Vater darüber aufgeregt habe, wie
teuer Zürich sei, und daß er die Absicht seiner Kinder, dort ein Haus zu
kaufen, verrückt finde. (Dieser Einwand von jemandem, der keine Ahnung hatte,
wieviel das Sanatorium kostete und daß Heather überhaupt erst Kontakt mit Jack
aufgenommen hatte, weil sie es nicht mehr bezahlen konnte!)
    Sie unterhielten sich auch über ganz prosaische Dinge – Dinge, von
denen Jack nie geglaubt hätte, daß er sich einmal mit jemandem darüber
unterhalten würde – zum Beispiel wie das Haus beschaffen sein mußte, das sie
sich in Zürich teilen würden: wie viele Zimmer und wie viele Badezimmer sie
brauchten, Herr des Himmels. (Genauso hätte es auch William gesagt.)
    Es war so deutlich, daß man es gar nicht in Worte zu fassen
brauchte: Jack wurde klar, daß man, wenn man glücklich ist – und besonders,
wenn man es zum erstenmal in seinem Leben ist –, an Dinge denkt, die einem
niemals widerfahren wären, als man unglücklich war.
    [1130]  Was für ein Morgen! Zuerst das Licht, das in sein Zimmer im
Storchen strömte, dann Kaffee und ein kleines Frühstück in dem Café an der
Limmat. Nie war ihm Einfaches so komplex erschienen, oder war es umgekehrt?
Gegen das, was als nächstes passieren würde, war er ebenso machtlos, wie er es
an jenem schicksalhaften Tag gewesen war, an dem William Burns Alice Stronach
geschwängert hatte.
    Und vor dem Hotel zum Storchen, auf dem Kopfsteinpflaster des
Weinplatzes, wo Jack gestanden und ihr »Bis morgen« zugerufen hatte, stand das
Supermodel der Pharmakologie, Dr. Anna-Elisabeth Krauer-Poppe. Erneut trug sie
etwas absolut Umwerfendes. Jack konnte verstehen, daß sie, um nicht so
aufzufallen, in Kilchberg den Laborkittel trug.
    Durch die winzigen Gassen gingen sie hügelaufwärts zur Kirche St.
Peter. Eines Tages würde er die Namen dieser Gassen auswendig kennen, dachte
Jack. Schlüsselgasse, gegenüber dem Veltliner Keller, und Weggengasse: Er würde
sie in seinem Kopf hören wie Musik.
    »Ein wunderschöner Morgen, nicht wahr?« fragte ihn Dr. Krauer-Poppe.
Sie war sehr taktvoll, als sie sah, daß er kein Wort herausbrachte, und machte
im Gehen Small talk. »St. Peter hat die größte Uhr in Europa, eine vierseitige
Turmuhr«, erzählte sie ihm. »Möchten Sie ein Taschentuch?« fragte sie und griff
in ihre Handtasche. Jack schüttelte den Kopf.
    Die Sonne würde die Tränen in seinem Gesicht trocknen, wollte er ihr
sagen, aber die Worte wollten nicht heraus. Er räusperte sich immer wieder.
    Die blaugraue Kirche lag auf einem kleinen, kopfsteingepflasterten
Platz mit vielen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher