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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde
Autoren: John Irving
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fassen, daß William immerzu weiterspielte und daß niemand von den
Zuhörern ging oder auch nur einen [1136]  Muskel regte. Er und Dr. Horvath standen
ebenso wie Dr. Krauer-Poppe die ganze Zeit. Wie es den anderen ging, wußte er
nicht, aber seine Beine wurden nicht müde. Er stand einfach da und nahm die
Klänge in sich auf. William Burns spielte und spielte – alle seine
Lieblingsstücke. (Das, was Heather »die alten Klassiker« genannt hatte.)
    Er spielte über eine Stunde lang. Sie hörten Händel und alle
anderen. Als sein Vater Bachs Tokkata und Fuge in d-Moll begann – das Stück,
das bei den Prostituierten in der Oude Kerk in Amsterdam so gut angekommen war
–, stupste Dr. Horvath Jack an.
    »Wir gehen jetzt gleich«, sagte er.
    Jack hatte natürlich keine Lust zu gehen, aber er sah, daß
Anna-Elisabeth ihn beobachtete. Er vertraute ihr, er vertraute ihnen allen. Es
war schwer, zu diesem Musikstück die Treppe hinunterzugehen, aber Dr. Horvath
und Jack taten es und waren dabei ganz leise. William war so in sein Spiel
vertieft, daß er es nicht bemerkte.
    In der Kirche war es warm. Sämtliche Türen waren offen, ebenso die
Fenster, soweit sie sich öffnen ließen. Die Klänge des Bach-Stückes strömten
hinaus auf den kleinen Platz, kamen gleichsam mit ihnen nach draußen. Dort,
zwischen den Bäumen und auf den Treppen, die von der Kirche wegführten, war die
Musik nicht so laut, aber trotzdem konnte man jeden Ton fast so deutlich hören
wie in der Kirche.
    In diesem Augenblick sah Jack die Menschen in den offenen Fenstern
und Hauseingängen der umliegenden Häuser. Wo er auch hinsah, waren Menschen,
die einfach nur zuhörten.
    »Im Winter ist es natürlich nicht ganz so!« sagte Dr. Horvath. »Aber
sie kommen trotzdem, um ihn spielen zu hören.«
    Jack stand am Fuße der Kirchentreppe, mitten auf dem kleinen Platz,
hörte nur zu und betrachtete all die Menschen. Von den Bauarbeitern, die schon
lange aufgehört hatten zu arbeiten, [1137]  kam kein Laut. Sie hatten die Werkzeuge
niedergelegt, standen still auf dem Gerüst und hörten einfach nur zu. Der Mann,
der den Hammer geschwungen hatte, hatte sein Hemd ausgezogen. Die zwei, die mit
der Säge gearbeitet hatten, rauchten. Der vierte, der Rohrmontierer, hielt ein
kleines Stück Rohr wie einen Stab in der Hand. Er tat so, als dirigiere er die
Musik.
    »Diese Affen!« sagte Dr. Horvath. Er sah auf seine Uhr. »Bis jetzt
keine Krämpfe in den Fingern!«
    Der Bach hörte sich so an, als käme er zum Abschluß. »Kommt noch
mehr?« fragte Jack. »Kommt danach noch ein Stück?«
    »Eines noch«, bestätigte Dr. Horvath nickend.
    Die Art, wie die Bauarbeiter auf dem Gerüst standen, verriet Jack,
daß sie das Programm ebensogut kannten wie Dr. Horvath. Sie sahen aus, als
machten sie sich für etwas bereit.
    Plötzlich war der Bach vorbei. Zugleich setzte ein sonderbarer
Exodus ein: Familien mit Kindern verließen die Kirche, einige Mütter mit
kleineren Kindern sogar im Laufschritt. Nur die Erwachsenen und die Teenager
blieben.
    »Feiglinge!« sagte Dr. Horvath verächtlich. Er trat einen Stein weg.
»Machen Sie sich bereit, Jack. Ich sehe Sie dann später, zum Joggen!« Jack
merkte, daß Dr. Horvath sich anschickte zu gehen.
    Außerdem stellte er fest, daß er das letzte Stück kannte. Er hatte
es Heather erst kürzlich in Old St. Paul’s spielen hören. Wie könnte er es je
vergessen? Es war Boëllmanns Horrorfilm-Tokkata. Auch die Bauarbeiter kannten
den Boëllmann – vielleicht spielte William Burns ihn jedesmal zum Schluß. Die
Bauarbeiter wußten eindeutig, was jetzt noch kam.
    Es war keineswegs so, daß er – wie vor kurzem außerhalb von Old St.
Paul’s – nichts hören konnte. Was aus der Kirche St. Peter herausströmte, war
ohrenbetäubend. Jack war mit dem Boëllmann nicht vertraut genug, um den ersten
Fehler seines Vaters, den ersten Krampf in den Fingern, zu bemerken, aber [1138]  Dr. Horvath hörte ihn offensichtlich und ballte eine Faust, als hätte er
sich gerade die Finger in einer Autotür geklemmt. »Ich muß jetzt wieder
hinein!« rief er.
    William verspielte sich ein zweites, dann ein drittes Mal. Jetzt
konnte auch Jack die falschen Töne hören.
    »Seine Finger?« fragte er Dr. von Horvath.
    »Sie können sich nicht vorstellen, welche Schmerzen ihm der
Boëllmann bereitet, Jack«, sagte Dr. Horvath, »aber er kann nicht aufhören zu
spielen.«
    Jack dachte an die Prostituierten in Hörweite der Oude Kerk, ganz
gleich
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