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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde
Autoren: John Irving
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wie spät in der Nacht oder wie früh am Morgen es gewesen war: Jetzt
verstand er, warum sie nicht nach Hause gehen konnten, wenn William Burns
spielte.
    Beim vierten Fehler lief Dr. Horvath los. »Ich möchte gern da sein,
wenn er anfängt, sich auszuziehen!« rief er Jack zu, während er immer drei
Stufen auf einmal nahm.
    Die Musik tobte weiter, ein Soundtrack für die mitreißendste
Verfolgungsszene aller Zeiten, stellte sich Jack vor. In seinem nächsten Film
würde vielleicht eine solche Szene vorkommen. Vielleicht könnte er seinen Vater
dazu bewegen, den Boëllmann zu spielen, mitsamt allen Fehlern.
    Diese nahmen, wie sogar Jack merkte, immer mehr zu. Die Bauarbeiter
auf dem Gerüst standen wie auf dem Sprung.
    »Ich habe einen Sohn!« hörte Jack seinen Vater über der aus dem
Ruder laufenden Tokkata schreien. »Ich habe eine Tochter und einen Sohn!«
brüllte er. Dann versagten seine Finger vollends den Dienst, und seine Fäuste
krachten auf das Manual herab. Ein Taubenschwarm schoß vom Turm von St. Peter
auf, und die Bauarbeiter fingen an zu singen.
    »Ich habe einen Sohn!« sangen sie. Sie hatten durch das Zuhören
sogar Englisch gelernt. »Ich habe eine Tochter und einen Sohn!« sangen sie.
Ihre Begeisterung war größer als ihr Talent, aber Jack konnte ihnen nicht böse
sein.
    [1139]  »Venite exultemus Domino!« sang sein
Vater, wie man einen Psalm anstimmen würde.
    Man könnte annehmen, daß gewöhnliche Bauarbeiter in Zürich kein
Latein konnten, aber es war nicht das erste Mal, daß diese Männer William Burns
zugehört hatten, und außerdem waren sie, wie Anna-Elisabeth gesagt hatte, ein
bißchen anders.
    »Venite exultemus Domino!« antworteten die
vier Arbeiter Jacks Vater.
    Der Mann, der vorhin gehämmert hatte, hielt die Hand mit dem Hammer
hoch über seinen Kopf. Die beiden Arbeiter mit der Säge hielten diese hoch wie
eine Opfergabe. Der Rohrmontierer hatte sich ein langes Stück Rohr gegriffen,
das er wie einen Fahnenmast senkrecht nach oben reckte.
    »Venite exultemus Domino!« sangen Jacks
Vater und die Arbeiter gemeinsam.
    Was der lateinische Satz bedeutete, wußte Jack nur, weil er kürzlich
mit seiner Schwester in St. Paul’s gewesen war. »Kommt lasset uns dem Herrn
frohlocken!« sang sein Vater. »Ich habe einen Sohn. Ich habe eine Tochter und
einen Sohn! Kommt lasset uns dem Herrn frohlocken!«
    Die Bauarbeiter sangen mit William weiter. Menschen kamen aus der
Kirche, nun da kein Boëllmann mehr donnerte und kein Zusammenprall mehr drohte.
Jack wußte, daß sein Vater sich nackt ausgezogen hatte oder dabei war, sich
auszuziehen. Im Sanatorium würden entweder Schwester Waltraut oder Hugo das
Eiswasser bereithalten. Und dann das heiße Wachs und dann noch einmal Eiswasser
–, so wie es Anna-Elisabeth erklärt hatte.
    Bald würde William Burns mit seinen Ganzkörpertätowierungen als
einzigem Chor nackt in der Kirche St. Peter stehen, wenn er nicht schon nackt
war. Und dann würde ihn Dr. Horvath – allein oder zusammen mit Dr. Krauer-Poppe
– ebenso sanft wie gekonnt wieder anziehen. Danach würden sie ihn wieder in die
Klinik zurückbringen.
    [1140]  Das Konzert war vorbei, aber die Bauarbeiter applaudierten immer
noch. Da wußte Jack, daß er und sein Vater niemals nur für ein Einmannpublikum
gespielt hatten, obwohl ihm als Kind die Vorstellung geholfen hatte, er trete
nur für seinen Vater auf. (Er würde mit seinem Vater ein Gespräch über die
Auseinandersetzung führen müssen, die dieser mit der Wurtz über den Begriff Publikum gehabt hatte – dieses und viele andere Gespräche.)
    Über schmale Treppen verließ Jack den Platz. Einige Zuhörer seines
Vater waren noch auf der Straße und gingen mit ihm. Es war ein wunderbares
Gefühl zu wissen, daß Zürich der Ort war, wo er hingehörte, zumindest so lange,
bis William Burns in den Nadeln schlief.
    Nun wollte er ins Hotel zum Storchen zurückgehen und sich etwas
Passendes zum Joggen anziehen.
    In Los Angeles war es nach Mitternacht, zu spät, um Dr. García zu
Hause anzurufen. Aber Jack brauchte kein Gespräch mit seiner Therapeutin. Er
würde in ihrer Praxis anrufen und eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter
hinterlassen. »Danke, daß Sie mir zugehört haben, Dr. García«, würde er ihr
sagen.
    In Toronto war es halb fünf Uhr morgens oder eine andere
unchristliche Zeit. Caroline schlief bestimmt noch, aber sie hätte nichts gegen
einen Weckruf von Jack – nicht, wenn es um seinen Vater, ihren lieben
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