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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde
Autoren: John Irving
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– sehr gut besucht, und [16]  Alice
glaubte, sie sei gestorben und zum Himmel aufgefahren, als sie dort für William
zu singen begann.
    In der Pfarrkirche standen Chor und Orgel hinter der Gemeinde. Für
den Chor gab es nur zwanzig Stühle – vorn die Frauen, hinten die Männer.
William bat Alice, sich während der Predigt weit vorzubeugen, damit er sie gut
sehen konnte. Sie trug eine blaue Robe – »blauhäherblau«, sagte sie zu Jack –
und einen weißen Kragen. Im April 1964, als Jacks Vater zum ersten Mal in diese
Kirche kam, um die Orgel zu spielen, verliebte sich seine Mutter in ihn.
    Mit Alice’ Worten: »Wir sangen Auferstehungschoräle, und auf dem
Friedhof blühten Krokusse und Osterglocken.« (Die heimlich verstreute Asche war
zweifellos ein hervorragender Dünger für die Blumen.)
    Alice stellte den jungen Organisten, der zugleich der Dirigent des
Chors war, ihrem Vater vor. Dessen Studio hieß »Persevere«, was zugleich der
Wappenspruch der Stadt Leith war und soviel wie »Durchhalten« bedeutete. Es war
das erste Mal, daß William ein solches Studio betrat, und dieses befand sich
entweder in der Mandelson oder in der Jane Street. Damals, erklärte Alice,
führte eine Eisenbahnbrücke über den Leith Walk, der die Mandelson und die Jane
Street verband, doch Jack konnte sich nie merken, in welcher der beiden Straßen
das Studio gewesen war. Er wußte nur, daß sie dort gelebt hatten, im Studio,
unter dem Gerumpel der Züge.
    Seine Mutter nannte das »in den Nadeln schlafen« – das war ein
Ausdruck aus der Vorkriegszeit. »In den Nadeln schlafen« hieß, daß man im
Studio schlief, weil die Zeiten hart waren und man keine andere Wohnung hatte.
Aber gelegentlich sagte man es auch, wenn ein Tätowierer – wie Alice’ Vater –
in seinem Studio gestorben war. Nach beiden Definitionen hatte er also nie
irgendwo anders geschlafen als in den Nadeln.
    Ihre Mutter war bei Alice’ Geburt gestorben, und ihr Vater – [17]  den
Jack nie kennengelernt hatte – zog sie in der Welt der Tätowierungen auf. In
Jacks Augen war seine Mutter schon deswegen einzigartig unter den Tätowierern,
weil sie selbst keine einzige Tätowierung hatte. Ihr Vater hatte ihr gesagt,
sie solle sich erst tätowieren lassen, wenn sie so alt sei, daß sie ein paar grundlegende
Dinge über sich selbst verstanden hätte; er meinte wohl die Dinge, die sich
niemals ändern würden.
    »Also mit Mitte Sechzig oder Siebzig«, sagte sie zu Jack, als sie
Mitte Zwanzig war. » Du solltest dich erst tätowieren
lassen, wenn ich tot bin«, fügte sie dann hinzu, und das war ihre Art, ihm
mitzuteilen, er solle nicht einmal mit dem Gedanken spielen, sich eine
Tätowierung machen zu lassen.
    Alice’ Vater faßte auf Anhieb eine Abneigung gegen William Burns,
der seine erste Tätowierung noch am selben Tag bekam. Sie zog sich über seinen
rechten Oberschenkel, so daß William sie lesen konnte, wenn er auf der Toilette
saß: die Einleitung zu einem Osterchoral, den er mit Alice geprobt hatte und
der mit den Worten »Christ ist erstanden« begann. Man mußte Noten lesen können
und sehr dicht bei Jacks Vater sitzen – vielleicht auf der benachbarten
Toilette –, um das Lied zu erkennen.
    Doch noch am selben Tag, an dem er dem talentierten jungen
Organisten seine erste Tätowierung gemacht hatte, sagte Alice’ Vater, dieser
William werde bestimmt ein »Tintensüchtiger«, ein »Sammler« werden – womit er
meinte, er sei einer von denen, die sich weder mit einer noch mit zwanzig
Tätowierungen begnügten. Er werde sich weiter tätowieren lassen, bis sein
Körper ein einziges Notenblatt und jeder Quadratzentimeter beschrieben sei. Es
war eine düstere Prophezeiung, doch Alice ließ sich nicht beirren. Der
tintensüchtige Organist hatte ihr Herz bereits erobert.
    Als Jack Burns vier Jahre alt war, kannte er den größten Teil
dieser Geschichte. Überraschend aber war, was seine Mutter sagte, [18]  nachdem
sie verkündet hatte, sie würden demnächst nach Europa reisen: »Falls wir
nächstes Jahr um diese Zeit – also wenn du in die Schule kommst – deinen Vater
nicht gefunden haben, vergessen wir ihn einfach und leben ohne ihn weiter.«
    Das war ein großer Schock, weil die Tatsache, daß sein Vater fort –
nein, schlimmer: »geflüchtet« – war, tief in Jacks Bewußtsein verankert war und
er und seine Mutter schon immer recht intensiv nach ihm gesucht hatten. Jack
hatte angenommen, daß sich daran nichts ändern würde. Der Gedanke, sie
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