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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde
Autoren: John Irving
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ohne Hintergedanken. Doch zunächst einmal brachte man sie im
Pfarrhaus von St. Paul’s an der Ecke Argyle und Prince Street unter, bis ihre
Zeit gekommen war. Inzwischen war sie nicht nur schwanger – man sah es auch.
    [23]  Es war, wie sie sagte, eine schwere Geburt. »Ein Kaiserschnitt«,
bemerkte sie etwa zu der Zeit, als sie im ersten der zahlreichen Nordseehäfen
eintrafen. Der vierjährige Jack schloß daraus, daß man bei schwierigen Geburten
den Kaiser rief, damit dieser den Bauch der Mutter aufschnitt. Etwas später –
wahrscheinlich während, nicht nach ihrer Europareise – erfuhr er, was es mit
einem Kaiserschnitt in Wirklichkeit auf sich hatte. Erst da wurde ihm erklärt,
dies sei der Grund, warum er nicht mit seiner Mutter baden oder sie in anderen
Situationen nackt sehen sollte. Alice sagte, sie wolle nicht, daß er die Narbe
sehe.
    Also wurde Jack Burns in Halifax geboren, in der Obhut jener anderen
St.-Paul’s-Gemeinde. Seine Mutter erinnerte sich – gern – daran, daß die
Gemeinde dem gefallenen, der Church of Scotland angehörenden Chormädchen ein
beträchtliches Mitgefühl entgegengebracht und über den schändlichen Organisten,
der immerhin ein Gemeindemitglied war, mit äußerster Verachtung gesprochen
hatte. Die Schottischen Episkopalen und die Kanadischen Anglikaner waren aus
demselben Holz geschnitzt. Offenbar hatte es an den Mitgliedern der
anglikanischen Gemeinde von St. Paul’s in Halifax gelegen, daß William sich
nicht lange in Toronto hatte verstecken können.
    Alice drückte es so aus: »Die Kirche war
ihm auf den Fersen.«
    Nachdem Jack in Nova Scotia geboren worden war, arbeitete Alice für
Charlie Snow. Charlie war ein Engländer, der im Ersten Weltkrieg Matrose in der
britischen Handelsmarine gewesen war; angeblich hatte er sich in Montreal
abgesetzt, wo Freddie Baldwin, Veteran des Burenkriegs und ebenfalls Engländer,
ihm das Tätowieren beigebracht hatte.
    Sowohl Freddie Baldwin als auch Charlie Snow hatten den Großen Omi
gekannt. Die Leute zahlten Geld, um das tätowierte Gesicht des Großen Omi zu
sehen; er kam mit dem Zirkus nach Halifax. Wenn er durch die Stadt lief, trug
er eine Skimaske. »Niemand bekam sein Gesicht umsonst zu sehen«, sagte [24]  Jacks
Mutter. (Das war noch mehr Material für Jacks Alpträume: Er stellte sich
unwillkürlich die schrecklichsten Tätowierungen auf dem Gesicht des Großen Omi
vor.)
    Von Charlie Snow lernte Alice, die Tätowiermaschinen mit
Äthylalkohol auszuspülen; sie putzte die Schläuche mit Pfeifenreinigern, die
sie mit dem Alkohol getränkt hatte, und jede Nacht kochte sie die Schläuche und
Nadeln in einem Dampfkochtopf aus. »So einem, in dem man Muscheln und Hummer
kocht«, sagte sie.
    Charlie Snow schnitt seine Verbände selbst aus Leinenstoff zu.
»Damals gab es nicht viele Fälle von Hepatitis«, erklärte Alice.
    Sie erzählte Jack, daß Charlie Snow seine beeindruckendste
Tätowierung von Charlie Baldwin bekommen hatte. Über Charlies Herz saß Sitting
Bull und blickte General Custer an, der, ohne ihn zu sehen, auf die rechte
Seite von Charlies Brust starrte. Mitten über Charlies Brustbein fuhr mit
vollen Segeln ein Schiff; auf einem Banner unter seinem Schlüsselbein stand HEIMWÄRTS .
    Charlie Snow kehrte erst 1969, mit achtzig, heim zu seinem letzten
Liegeplatz. (Er starb an einem durchgebrochenen Geschwür.) Alice lernte eine
Menge von Charlie Snow, aber Jerry Swallow, dessen Künstlername Matrosen-Jerry
war, brachte ihr bei, wie man einen japanischen Karpfen machte; er war 1962
Charlie Snows Lehrling geworden. Alice sagte oft, Jerry Swallow und sie seien
bei Charlie »gemeinsam in die Lehre gegangen«, aber natürlich hatte sie schon
im Studio ihres Vaters in Leith viel gelernt.
    Schon lange bevor sie in Halifax vor Anker gegangen war, wußte Jacks
Mutter, wie man tätowierte.
    Jack Burns hatte keinerlei Erinnerung an seinen Geburtsort. Bis
zum Alter von vier Jahren war Toronto die einzige Stadt, die er kannte. Er war
noch ein Kleinkind, als seine Mutter erfuhr, daß [25]  sein Vater in Toronto war
und was er dort machte. Sogleich folgten sie ihm dorthin, doch er hatte die
Stadt schon wieder verlassen. Das entwickelte sich langsam zu einem Muster. Als
der Junge alt genug war, um einen Begriff von der Abwesenheit seines Vaters zu
haben, gab es Gerüchte, William habe erneut den Atlantik überquert und sei
wieder in Europa.
    Als Jugendlicher fragte Jack sich oft, ob es die Geschichten von den
Taten seines
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