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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde
Autoren: John Irving
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könnten
ihn tatsächlich »einfach vergessen«, erschien dem Jungen weit seltsamer als die
geplante Reise nach Nordeuropa; außerdem hatte Jack nicht gewußt, daß seine
Mutter dem Schulbeginn eine solche Bedeutung beimaß.
    Sie selbst hatte die Schule nicht beendet. Alice hatte sich William
wegen dessen Studium immer unterlegen gefühlt. Williams Eltern waren
Grundschullehrer, die nebenbei Kindern Klavierunterricht gaben, jedoch eigentlich
eine professionellere musische Unterweisung schätzten. In ihren Augen war es
unter der Würde ihres Sohnes, in der Pfarrkirche von Süd-Leith zu spielen – und
das nicht etwa nur wegen der Klassenunterschiede, die es damals zwischen
Edinburgh und Leith gab. (Da waren ja auch noch die Unterschiede zwischen der
Scottish Episcopal Church und der Church of Scotland.)
    Alice’ Vater ging nie in irgendeine Kirche. Er hatte Alice dort
hingeschickt und in den Chor eintreten lassen, damit sie das Leben außerhalb
des Studios kennenlernte, und er wäre niemals auf den Gedanken gekommen, sie
könnte ihrem Verderben ausgerechnet in der Kirche, bei den Chorproben begegnen
– oder ihren gewissenlosen Verführer ins Studio bringen, damit er eine
Tätowierung bekam.
    Williams Eltern bestanden darauf, daß er, obgleich er erster
Organist an der Pfarrkirche von Süd-Leith war, eine Stelle als zweiter Organist
in Old St. Paul’s annahm. Für sie war wichtig, [19]  daß Old St. Paul’s
episkopalisch war und in Edinburgh stand, nicht in Leith.
    William war von der Orgel fasziniert. Er hatte mit sechs begonnen,
Klavier spielen zu lernen, und war neun gewesen, als er zum ersten Mal Orgel
gespielt hatte, doch schon mit sieben oder acht hatte er kleine Papierschnipsel
über den Tasten befestigt und sich vorgestellt, es seien Orgelregister. Er
träumte bereits davon, Orgel zu spielen, und das Instrument, von dem er
träumte, war die Father-Willis-Orgel in Old St. Paul’s.
    Seine Eltern mochten finden, eine Anstellung als zweiter Organist in
Old St. Paul’s sei prestigeträchtiger denn eine als erster Organist in der
Pfarrkirche von Süd-Leith, doch William wollte nur die Father-Willis-Orgel
spielen. Die Akustik der Kirche trug, wie Jacks Mutter sagte, zum Ruhm dieser
Orgel bei. Der Junge fragte sich später, ob sie damit gemeint hatte, daß dort
beinahe jede Orgel gut klingen würde, weil die Nachhallzeit wichtiger war als
die Qualität der Orgel.
    Alice erinnerte sich, in Old St. Paul’s einmal etwas gehört zu
haben, was sie als »Orgelmarathon« bezeichnete. Es handelte sich um ein
vierundzwanzigstündiges Orgelkonzert, bei dem die Organisten alle Stunde oder
halbe Stunde wechselten und das sicher für irgendwelche wohltätigen Zwecke
veranstaltet wurde. Wer wann spielen durfte, war natürlich hierarchisch
geregelt; die besten Organisten traten auf, wenn voraussichtlich viele Menschen
da sein würden, die anderen waren zu weniger günstigen Zeiten an der Reihe. Der
junge William Burns durfte vor Mitternacht spielen – wenn auch nur eine halbe
Stunde vorher.
    Die Kirche war halb leer oder sogar noch leerer. Niemand im Publikum
war so hingerissen wie Jacks Mutter. Der etwas schlechtere Organist, der als
nächster spielen würde, war wohl ebenfalls anwesend – der Mann in der
Warteposition, der die Mitternachtsschicht hatte.
    William wollte die legendäre Nachhallzeit von Old St. Paul’s [20]  nicht auf ein leises Stück verschwenden. Wenn Jack die Geschichte, die seine
Mutter ihm erzählte, richtig verstand, spielte sein Vater Orgel, um gehört zu werden; seine Wahl war auf die Tokkata von Boëllmann
gefallen, die Alice als »aufwühlend und laut« bezeichnete.
    Eine schmale Gasse führte an Old St. Paul’s vorbei, und dort drückte
sich einer von Edinburghs Obdachlosen – höchstwahrscheinlich betrunken – an die
Außenmauer der Kirche und suchte Zuflucht vor dem Regen. Er war entweder in
dieser Gasse zusammengebrochen oder hatte sich absichtlich dort schlafen
gelegt; vielleicht war es auch sein Stammplatz. Aber nicht einmal ein
Betrunkener kann schlafen, wenn Boëllmanns Tokkata erklingt – offenbar nicht einmal
außerhalb der Kirche.
    Alice führte den Auftritt des betrunkenen Penners gern vor. »Ist
jetzt vielleicht mal Schluß? Wie soll ich auch nur ein Scheißauge zumachen,
wenn dieses Scheißding von einer Scheißorgel einen Krach macht, daß die
Scheißtoten aus den Gräbern auferstehen?«
    Alice fand, für diese Worte hätte der Mann es verdient gehabt, von
einem Blitz
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