Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bis einer stirbt

Bis einer stirbt

Titel: Bis einer stirbt
Autoren: Ravensburger
Vom Netzwerk:
Wohnung wie ein geölter Blitz. Die Tür knallte hinter mir ins Schloss. Ich heulte wie verrückt.
    Den ganzen Nachmittag lief ich ziellos durch die Stadt. Es war Mitte November, ein eisiger Wind pfiff durch die Straßen. Die meiste Zeit hing ich in Passagen und Kaufhäusern herum. Nach zwei Tees im Stehen war mein Geld futsch. Ich hatte Kohldampf und es wurde früh dunkel. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wohin. Nur eins war klar: auf keinen Fall nach Hause. Mein Vater musste unbedingt kapieren, dass er nicht alles mit mir machen konnte.
    Janine wäre die Einzige gewesen, zu der ich in so einer Situation hätte gehen können, aber die war vor zwei Monaten mit ihren Eltern aus der Stadt weggezogen. Und einen Ersatz für die beste Freundin findet man nicht einfach so auf der Straße.
    Um sechs Uhr war ich noch immer ratlos. Schließlich landete ich im Moby Dick , einem auf alte Seemannskneipe getrimmten Bistro, mit Fischernetzen, die von der Decke baumelten, verrosteten Bootslampen auf Theke und Tischen und Fotos von alten Seefahrern und Walfängern an den Wänden. Manchmal trieben sich hier ein paar Leute aus meiner Klasse herum. Ich musste mir wenigstens irgendwo Geld leihen.
    War aber nichts. Ich kannte niemanden. Nur den Typ hinter der Theke. Er hieß Fred und war seit ein paar Wochen Chef dieses Ladens, obwohl ich ihn auf höchstens Mitte zwanzig schätzte. Seine muskelbepackten Arme waren über und über tätowiert. Wenn er den Mund aufmachte, sah man nicht nur seine vergilbten Zähne, sondern hörte auch, dass er aus Hamburg kam. Im linken Ohr trug er einen großen goldenen Ring, im aknevernarbten Gesicht einen Drei- bis Fünftagebart. Seine Vorbilder schienen die verwegenen Walfängertypen auf den alten Fotos zu sein. Ich fand ihn einfach nur schrecklich. Außerdem war er fast einen Kopf kleiner als ich.
    Seit meinem letzten Besuch hier war mir klar, dass meine Abneigung nicht auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber so sehr seine Baggerei mich damals genervt hatte, umso mehr schien sie mir jetzt wie ein Silberstreif am Horizont. Er sah mich und grinste, ich lächelte zurück.
    »Hallo, Fred, mein Geld liegt zu Hause unterm Kopfkissen. Krieg ich trotzdem eine Cola?«
    Ich schwang mich auf einen Barhocker. Noch bevor ich oben angekommen war, stand auch schon ein volles Glas vor meiner Nase.
    »Du bist mein Gast«, schleimte er.
    Ich lächelte. Ruckzuck war mein Glas leer und Fred machte es wieder voll.
    »Probleme?«, fragte er. Auch das noch: Der als verständnisvoller Typ! Da stand ihm selbst der Walfänger noch besser.
    Ich verneinte knapp. Was hatte ich mir da nur eingebrockt? Ich glaube, seine Frisur war in den Achtzigern mal hip: vorne kurz, hinten lang. Sein anabolikagestählter Oberkörper brachte das T-Shirt fast zum Platzen. Trotz aller Rumschleimerei hatte er auf mich die Ausstrahlung eines Eisbergs, das war ganz merkwürdig. Er rieb ein paar Gläser trocken und glotzte mich stur an.
    »Viel ist ja nicht gerade los«, sagte ich, damit er aufhörte, über meine Probleme nachzudenken.
    »Noch früh am Tag«, meinte er trocken, ohne mich aus den Augen zu lassen. Ganz sicher wollte er mich betören oder so was. Ich hörte, wie er den Rotz hochzog. Mir wurde fast schlecht.
    Dann kam die Erlösung. Ein Gast rief ihn an seinen Tisch und verwickelte ihn in ein Gespräch, sodass ich in Ruhe meine Cola austrinken konnte. Gegen meinen Hunger brachte das nichts. Auch nicht gegen das große schwarze Loch in meinem Schädel, wo sonst mein Hirn war.
    Schließlich fand ich, dass es keinen Sinn machte, länger hier herumzusitzen. Ich stand auf und ging zur Tür. Fred winkte cool zu mir rüber, aber ich tat, als würde ich ihn nicht sehen.
    Als ich die Tür öffnete, schnitt mir kalte Luft ins Gesicht. Ich dachte an den Rotz in Freds Nase und widerstand so der Versuchung, hier zu bleiben. Ich trat hinaus. Aus dem Dunkel kamen zwei Typen um die Ecke und rannten mich fast um. Der eine war groß, der andere eine ganze Ecke kleiner.
    »Könnt ihr nicht aufpassen? Schwachmaten!«
    Die beiden schauten kaum hoch. Sie hatten ihre Mützen tief ins Gesicht gezogen. Der Größere redete hektisch auf den Kleineren ein. Ich verstand nur ein paar Worte: »Mach das nicht! Ich schwör dir, das bringt nichts.«
    Sie wollten ins Moby Dick . Dann erkannte ich ihn. Ich traute meinen Augen nicht. Es war Pit.
    »Hey!«, rief ich. »Was machst du denn hier?«
    Pit war mein kleiner Bruder, gerade vierzehn geworden. Auch er hatte in letzter Zeit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher