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Bis einer stirbt

Bis einer stirbt

Titel: Bis einer stirbt
Autoren: Ravensburger
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dauernd Stress mit unserem Vater. Dazu muss man allerdings wissen, dass es seit Monaten kaum jemanden gab, der nicht mit mindestens einem dieser beiden Stress hatte. Pit trieb sich viel in der Gegend herum und kam nachts oft erst spät nach Hause. Unserer Mutter brach es das Herz, aber auch sie kam nicht gegen ihn an. Genauso wenig wie ich. Wir Geschwister hatten uns immer gut verstanden, aber davon konnte in letzter Zeit keine Rede sein.
    Auch jetzt war er viel mehr erschrocken als erfreut. Den Typen an seiner Seite hatte ich noch nie gesehen. Er war mindestens in meinem Alter, wenn nicht schon zwanzig, und sah gar nicht so übel aus.
    »Wir, äh …«, stammelte Pit, dann sagte er zu seinem Begleiter: »Das ist Klara, meine Schwester.«
    »Ach so. Hallo, Klara. Wir wollen uns ein bisschen aufwärmen da drinnen. Lausige Kälte, oder?«
    »Und von was«, fragte ich Pit, »sollst du am besten die Finger lassen?«
    Die Warnung hallte merkwürdig in meinem Kopf nach. Pit kam ins Schleudern.
    »Äh, die Spielautomaten«, sprang wieder sein Kumpel für ihn ein. »Da steckt er sein ganzes Geld rein, dein kleiner Bruder. Und ich finde, das bringt einfach nichts.«
    Pit beeilte sich, ihm zuzustimmen: »Genau das findet er.«
    In meinem Gesicht wollte er lesen, ob ich die Erklärung akzeptierte. Da ich andere Probleme hatte, war ich gern dazu bereit. Sein Begleiter schob ihn vorsichtig an mir vorbei, die Hand auf seiner Schulter. Zwischen Daumen und Zeigefinger sah ich ein kleines Tattoo, eine Schildkröte. Schildkröten sind meine Lieblingstiere. Trotzdem vergaß ich es sofort und erst viel später, in völlig anderem Zusammenhang, fiel es mir wieder ein.
    »Äh … Pit …«, stammelte ich.
    »Was gibt’s?«
    »Hast du ein bisschen … Geld für mich?« Es war mir superpeinlich, dass ich ausgerechnet ihn fragen musste.
    »Wenn’s weiter nichts ist«, meinte er großkotzig. Er wühlte in seiner Hosentasche und hielt mir dann einen Schein unter die Nase. Wie bitte? Fünfzig Euro? Leider war ich nicht in der Position, mich lange mit Skrupeln aufzuhalten, und griff so schnell wie möglich zu.
    »Alles aus den Automaten?«, fragte ich obenhin.
    »Glückssträhne«, meinte Pit. »Bis später.«
    »Bis später. Ich ruf dich auf dem Handy an.«
    »Vielleicht sehen wir uns ja zu Hause«, entgegnete er.
    »Dahin geh ich heute nicht mehr«, sagte ich. »Die nächsten Tage auch nicht. Ich melde mich bei dir.«
    Er schien überrascht, fragte aber nicht weiter nach. Am Ende wurde ich das Gefühl nicht los, dass er mir gar nicht richtig zugehört hatte. Er grinste hilflos und die beiden verschwanden im Moby Dick . Ich hatte weder Zeit noch Lust, mich länger über diese seltsame Szene zu wundern. Aber von diesem Moment an hatte ich Kopfschmerzen.
    Nach zwei Cheeseburgern mit Pommes frites funktionierte mein Denkapparat wieder etwas besser. In der Scheibe des Hamburger-Ladens betrachtete ich mein Spiegelbild. Meine Haare waren zerzaust und mein Gesicht blass. Ich gefiel mir gar nicht. Aber hier drinnen war es wenigstens warm und ich hatte keinen Hunger mehr, auch wenn jetzt langsam die Müdigkeit mit klebrigen Fingern nach mir griff und die Kopfschmerzen mich weiter plagten.
    Ich versuchte eine Bestandsaufnahme. Welche Möglichkeiten hatte ich? Nach Hause wollte ich auf keinen Fall. Für ein Hotel fehlte mir nicht nur das Geld, es war auch sonst unmöglich. Zwar sah ich nicht mehr aus wie ein Kleinkind, aber für achtzehn ging ich wohl kaum durch. Und ehe ich unter einer Brücke schlief, wäre ich lieber ins Wasser gegangen. Ich musste bei jemand unterschlüpfen. Ich dachte an ein paar Mädchen aus meiner Klasse.
    Am Ende blieben zwei, nein, eine: Jessica. Auch wenn ich auf ihre nervige Art überhaupt keine Lust hatte. Trotzdem hatte ich das Handy schon herausgezogen, als ich plötzlich Nils Gröling auf der anderen Straßenseite sah. Ausgerechnet der! Total in Gedanken versunken trottete er vor sich hin und sah mich nicht.
    Und jetzt kommt’s: Ich steckte das Handy wieder ein und trabte ihm hinterher. Ich konnte es selbst kaum fassen. Erst in diesem Augenblick wurde mir klar, wie verzweifelt ich tatsächlich war.

2
    In der alten Lagerhalle herrscht eine bedrückte Stimmung. Keiner sagt etwas, alle sitzen auf Kisten herum oder auf dem nackten Boden. Jeder der vier ist in seine Gedanken versunken. Immer wieder springt einer von ihnen auf und dreht nervös eine Runde durch die Halle. Es ist kaum wärmer hier als draußen, es riecht
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