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Big U

Big U

Titel: Big U
Autoren: Neal Stephenson
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Situation rechtfertigte, schwang der Penner ein Fenster wie eine Tür auf und ließ einen Schwall verpesteten
    Dampfes herein.
    Als er sich weit hinauslehnte und grinsend die zwanzig Meter bis zur Parkplatzzufahrt und dem Straßenkreuz hinunterschaute, hatte sie sich entschieden, es mit Diplomatie zu versuchen – allerdings gab sie Casimir ein Zeichen, daß er versuchen sollte, seine Beine zu packen. Casimir achtete gar nicht darauf; es war offensichtlich, daß der Mann nur versuchte, ihr Angst zu machen. Casimir kam aus Chicago und war der Meinung, daß diese Ostküstler keinen Sinn für Humor hatten.
    »Aber, aber, Pert«, sagte Mrs. Santucci, »mach einer alten Dame das Leben nicht schwer.«
    Bert Nix ließ sich auf den Sims zurückfallen. »Das Leben schwer! Was wissen Sie schon vom schweren Leben?« Er stieß die Hand durch ein Loch in dem Jackett, winkte ihr mit den langen Fingern und ließ seine Zunge ein paar Sekunden unkontrolliert kreisen. »Wenn das Leben schwer ist, macht einen das nur stark«, fügte er schließlich hinzu.
    »Ich muß arbeiten, Pert.«
    Da schien ihm etwas einzufallen. »Ich auch«, sagte er, drehte sich zu Casimir um und flüsterte: »Das ist das Julian Didius III Gedächtnisfenster. Jedenfalls nenne ich es so. Gefällt dir die Aussicht?«
    »Ja, ganz schön«, antwortete Casimir in der Hoffnung, daß dies nicht zu einem Gespräch ausarten würde.
    »Gut«, sagte der Penner, »J. D. gefiel sie auch. Jedenfalls war sie das letzte, was er gesehen hat. Wurde mit dem Job nicht fertig. Darum nenne ich es so.«
    Der kichernde Bert Nix schlurfte zufrieden auf den Flur zurück und hielt nur noch einmal kurz inne, um den Inhalt des Büropapierkorbs zu stehlen.
    Fast die ganze Zeit hatte Casimir reglos dagesessen und das verblichene Touristikposter von Deutschland an der Wand betrachtet. Nun befand er sich wirklich in den Klauen von Mrs. Santucci, die wahrscheinlich den Adrenalin-Turbo reingehauen hatte und vermutlich ihren Schreibtisch durch die Wand werfen würde. Aber statt dessen gab sie sich vollkommen ruhig und professionell. Deshalb empfand Casimir sofort eine Abneigung gegen sie.
    »Ich studiere Physik und bin von einem öffentlichen College in Illinois hierhergekommen. Ich kenne die ersten zwei Jahre Physik in-und auswendig, aber es gibt ein Problem. In den Studienbedingungen hier heißt es, daß ein Physikstudium in den Hintergrund des ›sozioökonomischen Kontexts‹ eingebettet sein muß, was vermutlich bedeutet, man muß wissen, in welchem Zusammenhang die Physik mit diesem oder jenem steht, was heute …«
    »Damit die Lernerfahrung in einen Kontext mit der realen Welt gesetzt werden kann«, sagte Mrs. Santucci ernst, »müssen wir den sozioökonomischen Hintergrund als integralen Bestandteil in das Vordergrundmaterial einbetten.«
    »Gut. Mein Problem ist jedenfalls, ich glaube nicht, daß ich das brauche. Ich bin nicht gekommen, um Ihnen meinen Lebenslauf zu schildern oder so, aber meine Eltern waren Einwanderer. Ich stamme aus einem Elendsviertel, interessierte mich für Elektronik, ging gewissermaßen meinen eigenen Weg, habe eine Menge gesehen, und darum glaube ich, daß ich das wirklich nicht brauche. Es wäre ein Jammer, wenn ich wieder ganz von vorn anfangen und, äh, Vordergrundmaterial lernen müßte, das ich schon kenne.«
    Mrs. Santucci verdrehte die Augen, so daß ihr blauer Metallic-Lidschatten aufblitzte wie Blinker, die an einer Angelschnur durch trübes Gewässer gezogen wurden. »Ja, so etwas wurde schon gemacht. Aber es muß mit dem für Studienangelegenheiten verantwortlichen Lehrstuhlinhaber Ihres Fachbereichs abgesprochen werden.«
    »Und wer ist das in Physik?«
    »Professor Sharon«, sagte sie. Sie sah Casimir mit hervorquellenden Augen an, ließ dem Namen ein respektvolles Schweigen folgen und forderte ihn förmlich heraus, es zu unterbrechen.
    Als Casimir wieder zu Bewußtsein kam, schwebte er durch den Flur und murmelte immer noch fassungslos vor sich hin. Er hatte einen Termin bei dem Professor Sharon. Er wäre in Ekstase geraten, hätte er nur in einer Vorlesung dieses Mannes sitzen dürfen!
    Casimir Radon war ein komischer Kauz für einen Studenten der Amerikanischen Megaversität. Das war gut für ihn, weil die Wohnraumverwaltung einfach keinen passenden Zimmergenossen für ihn finden konnte und er aus diesem Grund eines der seltenen Einzelzimmer bekam. Es lag im D-Turm, nicht weit vom naturwissenschaftlichen Block entfernt, wo er den größten Teil
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