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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten
Autoren: Tom Knox
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an und versuchte dabei, nicht zu denken. Der letzte Lkw würde Bala am Nachmittag verlassen. Am liebsten wäre er nach draußen gerannt und das Tal hinuntergelaufen. Er wusste nicht, was er tun sollte.
    Julia saß auf der Terrasse.
    »Chemda ist weg«, sagte er.
    Julia sah ihn an. Mit einem forschenden Blick. »Ich weiß. Sie hat es mir gestern Abend erzählt. Einer der Männer aus dem Dorf wollte bei Tagesanbruch seine Früchte zum Markt in Zhongdian bringen. Er hat sie in seinem Pick-up mitgenommen. Ich finde das sehr schade, Jake.«
    Er setzte sich und blickte eine Weile auf seine Hände hinab, bevor er Julia ansah.
    »Und was wirst du machen? Wenn wir endlich von hier … wegkommen?«
    Die Archäologin seufzte. Ihre Miene war angespannt.
    »Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Nicht mehr.«
    Jake sagte nichts. Aber sein Schweigen schien Julia unangenehm zu sein. Deshalb stand er auf, stellte seinen Stuhl zurück und setzte seine Wanderung entlang der Tische auf der Terrasse fort.
    Der Tag war hell, klar und frisch. Die Dorfbewohner bestellten ihre steilen braunen Felder. Eine alte Frau bedachte ihn mit einem zahnlosen Lächeln, als er den Weg zum Stupa hinunterging.
    Der Stupa lag auf einem hohen Felsvorsprung, von dem man einen phantastischen Blick auf einen der spektakulärsten Teile der Schlucht hatte. Tief unten befanden sich die Himmelsdörfer; noch tiefer unten war der reißende Fluss, ein jugendlicher Nebenfluss des Mekong.
    Der Mekong. Der bloße Gedanke daran löste eine kaleidoskopische Kette frischer Erinnerungen aus. Es kam Jake so vor, als hätte er in den vergangenen Wochen nichts anderes getan, als dem mächtigen Mekong zu folgen, von Vang Vieng nach Luang Prabang nach Phnom Penh nach Yunnan. Der mächtige Mekong. Und jetzt war er in der Nähe seiner Quelle angelangt, wo sein kristallklares Wasser gewaltsam und tragisch über die Felsen rauschte.
    Er stieg die letzten Stufen hinauf und legte die Hand an den Stupa. Stille umgab ihn.
    Das einzige Geräusch kam von den Windpferden – den im Wind flatternden Gebetsfahnen. Jede Fahne – rot, blau und verblichen gelb – war mit den Wünschen der zu den heiligen Bergen betenden Dorfbewohner beschriftet.
    Tiefes Bedauern senkte sich auf ihn wie lautlos fallender Schnee. Was hatte er getan? Er hatte alle verloren. Seine Schwester, seine Mutter, seinen Freund und jetzt auch noch Chemda.
    Alle.
    In wenigen Stunden würde der letzte Lkw das Dorf Bala verlassen und zu der langen Fahrt nach Zhongdian aufbrechen. Und er würde mitfahren. Auf der Suche nach Chemda. Er musste sie finden. Er wusste, nötigenfalls würde er sein ganzes Leben lang versuchen, sie zu finden.
    Ein eisiger Windstoß erfasste ihn. Die kleinen Gebetsfahnen flatterten in seinem lautlosen Luftzug; sie flehten das Universum an, füllten die Stille. Arme aus Schnee umschlangen den felsigen Gipfel des Weißen Buddhabergs – wie eine Mutter, die ihren Sohn mit ihrer Liebe umfängt und ihn nie mehr loslässt.

51
    W as Sie getan haben, war sehr mutig. Geradezu tollkühn!« Capitaine Rouvier lenkte den Wagen um eine Kurve. Vor ihnen, in der Ferne, konnte Julia durch den Nieselregen die Steine der Cham des Bondons sehen. Dunkel und schwermütig. Fast war es, als hätten sie auf ihre Rückkehr gewartet.
    »Na, ich weiß nicht, ob das so mutig war«, erwiderte sie. »Ich habe es einfach getan. Ohne groß zu überlegen. Ich musste es einfach tun. Danke übrigens, dass Sie mich am Flughafen abgeholt haben.«
    Der französische Polizist lächelte verhalten und blickte mit zusammengekniffenen Augen in den Regen hinaus.
    »Sie haben sich doch bereits zweimal bei mir bedankt, Miss Kerrigan. Aber was ich immer noch nicht recht verstehe: Wollen Sie den Winter tatsächlich hier oben verbringen?«
    Er deutete auf die vor Nässe triefende triste Heidelandschaft, den windgepeitschten Causse.
    »Mein Londoner College hat mir ein paar zusätzliche Wochen bezahlten Urlaub genehmigt. Wegen … na ja …«
    Rouvier erwiderte nichts darauf. Sie fuhren am kaputten Tor eines Gehöfts vorbei, vor dem zwei Pferde trübsinnig und verloren im Regen standen. Ein weiterer einsamer Megalith tauchte im Nebel auf.
    Julia dachte an ihre Ideen. Über die Osterinsel. Über die Monumente einer untergehenden, von Gewalt zersetzten Kultur.
    »Aber im Frühjahr kehren Sie wieder nach England zurück?«, fragte Rouvier.
    »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Mir gefällt die Vorstellung, zwischen verschiedenen
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