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Bibel der Toten

Bibel der Toten

Titel: Bibel der Toten
Autoren: Tom Knox
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Gefühle. Jake konnte nicht sagen, ob sie weinte oder nicht. Es interessierte ihn auch nicht. Die Sonne schien. Niemand sagte etwas. Es gab nichts zu sagen; es würde auch nichts zu sagen geben, niemals wieder. Zarte Zirruswolken streiften den Himmel hinter dem Weißen Buddhaberg.
    Schon wenige Stunden nach der Operation kam Jake zu einer ernüchternden Einsicht: Der Eingriff war fehlgeschlagen; seine Teilnahmslosigkeit war unverändert, dieses Gefühl, in einer Welt zu leben, aus der alle Musik entfernt worden war.
    Aber immerhin war er nicht gestorben oder elendiglich lobotomisiert worden. Und die Schuldgefühle, die er wegen seiner Schwester und seiner Mutter gehabt hatte, waren auch nicht zurückgekehrt.

    Am nächsten Tag lag er im Bett oder saß mit Chemda verlegen auf der Terrasse. Manchmal versuchte Chemda, zu lächeln, ihn zu berühren, ihn zu küssen. Aber seine lustlose Reaktion ließ sie schließlich davon Abstand nehmen. Und irgendwann zog sie sich einfach in ihr Zimmer zurück.
    Und ließ ihn allein.
    Dann kamen die Soldaten. Zuerst das Militär, später die Polizei. Es war nicht annähernd so schlimm, wie sie befürchtet hatten. Rouvier hatte, wie Julia ihnen erklärte, über die Vermittlung der französischen, US-amerikanischen und englischen Regierung veranlasst, dass sie weder festgenommen noch sonst in irgendeiner Weise behelligt wurden.
    Wie es schien, hatte Rouvier mit seinen Bemühungen in Beijing ohnehin offene Türen eingerannt. Die Chinesen, denen die ganze Angelegenheit merklich unangenehm war, wollten nur zu offensichtlich eine gütliche Einigung erzielen. Jake hatte sogar den Verdacht, dass sie sich, was die Stürmung des Laborkomplexes anging, ganz bewusst zurückgehalten hatten, damit sich die Sache von selbst erledigte und Beijing nicht kompromittiert würde. Bei einem solchen Ausgang konnten die Behörden nämlich glaubhaft ihre Unkenntnis geltend machen – und die ganze unappetitliche Angelegenheit einfach die Kloake der Geschichte hinunterspülen.
    Diesen Schluss legte zumindest das Vorgehen der Behörden nahe. Die Polizei trat zwar vordergründig forsch und kompetent auf, aber auch sie war seltsam lax und teilnahmslos. Sie vernahmen alle mehrmals als Zeugen und verhörten Fishwick, sie machten Fotos vom »Tatort« und konfiszierten medizinische Geräte, aber ihr Vorgehen hatte recht kursorischen Charakter. Jake war sicher, dass die Fotos und Vernehmungsprotokolle bei der erstbesten Gelegenheit vernichtet würden.
    Und dann zogen die Spezialisten und die Soldaten ab, und zurück blieb nur die reguläre Polizei. Einer der Beamten war besonders freundlich.
    Jake saß allein auf der Terrasse und trank seinen köstlichen Pu-Erh-Tee. Der junge, Englisch sprechende Polizist kam zu ihm nach draußen und teilte ihm mit einem Blick auf Jakes frische narbe mit, dass er zur »Regeneration und Erholung« – zwei Wörter, deren Aussprache dem Polizisten extrem schwer fiel – ein paar Tage länger in Balagezong bleiben dürfe. Doch danach, ließ der Polizist durchblicken, würde von Jake, Chemda und Julia definitiv erwartet, dass sie das Land verließen und nach Bangkok zurückkehrten. Und von dort nach Hause flögen. Oder sonst irgendwohin. Nur weit weg von China.
    Dann machte der Polizist die erste und einzige – vage – Anspielung auf die unausgesprochene Abmachung. Er deutete auf das eindrucksvolle Bergpanorama und sagte lächelnd: »Sie sind doch Fotograf, oder? Vielleicht sollten Sie ein paar Fotos von der Gegend hier machen. Und veröffentlichen. Die landschaftlichen Schönheiten sind der einzige Grund, hierherzukommen. Mehr braucht die Öffentlichkeit nicht zu wissen, oder?«
    Jake hatte wie ein am Strand sitzender Invalide eine Decke über die Knie gelegt. Er wusste, wie diese Bemerkung zu deuten war. Man erkaufte ihr Stillschweigen. Die Chinesen wollten die lästigen Ausländer los sein, aber sie ließen sie nur als Gegenleistung für ihr Schweigen laufen. Der Polizist lächelte wieder.
    »Über das alte China brauchen die Menschen nichts zu wissen. Sie sollen etwas über das neue China erfahren! Finden Sie nicht auch? Und in Kürze wird hier der Shangri-La-Nationalpark entstehen! Das ist, was Sie den Menschen sagen müssen.«
    »Shangri-La?«
    »Ja. xianggelila.« Er lachte. »Shangri-La. Der Name stammt aus dem Buch eines Engländers, glaube ich. Das verborgene Paradies im Himalaya. Eine gute Idee – ein guter Markenname. Das wird das Leben der Bauern hier von Grund auf
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