Bevor mir der Tod die Augen schließt (Ein-Linnea-Kirkegaard-Krimi) (German Edition)

Snare in einer unguten Mischung aus Diensteifer und Inkompetenz seine Befugnisse überschritten. Zunächst hätte er gar nicht erst eingreifen dürfen, des Weiteren hatte er den Auftrag, die Piraten möglichst ohne Verluste auf beiden Seiten dingfest zu machen. Was bei neun niedergeschossenen Piraten nicht unbedingt erfolgreich gelungen war.
    Natürlich würde sich die internationale Gemeinschaft nicht groß darum kümmern. Vor nicht einmal einem halben Jahr hatten private Sicherheitsleute auf einem französischen Schiff bei einem Kaperungsversuch sieben Piraten getötet, und vor einem Jahr hatten die amerikanischen Sicherheitstruppen drei Soldaten erschossen, die das Mærsk-Schiff Alabama geentert hatten. Lediglich fünf Tage lang hatten sie den Kapitän gefangen gehalten, ehe die amerikanische Flotte ihn befreite und alle als Helden zurückkehren konnten.
    Dies war allerdings etwas ganz anderes. Die Ladung des Schiffs war – milde ausgedrückt – heikel. Zu viel mediale Aufmerksamkeit konnte gefährlich sein und alles zutage fördern, und dies zu verhindern, war Warwicks Aufgabe.
    Deshalb war er sofort informiert worden, als die Aktion eingeleitet worden war, und aus diesem Grund befand er sich weniger als vierundzwanzig Stunden später an Bord des befreiten dänischen Containerschiffs: um sich zu vergewissern, dass noch immer niemand außer dem Kapitän wusste, was das Schiff wirklich geladen hatte.

5
    L innea schniefte energisch, nachdem sie den Zerstäuber des Nasensprays aktiviert hatte, und verzog das Gesicht über den bitteren Geschmack. Sie zog die Nase hoch und schwor sich, das Spray erst vor dem Schlafengehen wieder zu benutzen. Inzwischen nahm sie es schon seit einer Woche, aber was blieb ihr auch anderes übrig, wenn die Salzwassertropfen nicht mehr halfen. Sie konnte unmöglich arbeiten, wenn sie sich die ganze Zeit um ihre verstopfte Nase kümmern musste und überall eine Kleenex-Spur hinterließ. Wenn man in dieser Winterkälte stand, war es schwer, kein Fernweh zu bekommen.
    Als sie mit ihrer Arbeit fertig war, winkte sie Thor herbei.
    »Spätestens heute Mittag werden wir sie gefunden haben«, sagte er ungefragt. »Aber bis dahin hat sie sich bestimmt schon längst bei der Polizei gemeldet.«
    Er klang, als wolle er in erster Linie sich selbst überzeugen. Seit die Frau geflüchtet war, herrschte ringsum hektische Aktivität, und auch Thor konnte die Füße kaum stillhalten.
    »Sie wird sich nicht melden, denn sie steht unter Schock. Sie hat etwas so Grauenvolles erlebt, dass wir uns gar keinen Begriff von ihrem Zustand machen können. Vermutlich glaubt sie, alle wären hinter ihr her. Es wird Tage dauern, bevor sie in der Lage ist, mit euch oder irgendjemand anderem zu sprechen. Und sie wird euch rein gar nichts erzählen.«
    »Wir werden sehen.«
    Linnea warf Thor einen trotzigen Blick zu und fühlte sich mit einem Mal schrecklich müde.
    »Sie ist nicht nur deine Zeugin«, erklärte sie. »In erster Linie ist sie ein Opfer. Vergiss das nicht.«
    »Du hast natürlich recht. Wie immer.«
    Thor senkte den Kopf in gespielter Reumütigkeit, und sie musste lächeln. Dann setzte sie wieder ihre professionelle Miene auf und kniete sich vor die Leiche. Thor hockte sich neben sie, um besser sehen zu können.
    »Zunächst einmal würde ich sagen, dass er infolge der Schnitt- und Stichwunden an der rechten Seite verblutet ist und der Tod erst vor wenigen Stunden eintrat.«
    »Das hätte ich auch geraten.«
    Linnea warf ihm einen biestigen Blick zu, und er hielt sich sofort die Hand vor den Mund.
    »Auch sonst weist sein Körper überall schwere Stichverletzungen auf, von denen mehrere schon für sich genommen tödlich sein könnten. Aber das kann ich bei einer vorläufigen Leichenschau noch nicht mit Sicherheit sagen. Folgendes konnte ich erst einmal feststellen: ein kleiner Bluterguss am linken Auge, Läsionen an der Unterlippe, eine Platzwunde, die von der Stirn abwärts am linken Auge vorbei verläuft, eine etwa zehn Zentimeter lange klaffende Schnittwunde von der Kehle bis zum linken Auge, Schädelverletzungen infolge stumpfer Gewalt oder eines schweren Sturzes, drei Stichwunden in der Brust, zwei Stichwunden auf der linken Rückenseite, eine Stichwunde rechts vom Bauchnabel und in der linken Flanke und schließlich mehrere tiefere Einstiche am Unterschenkel.«
    Thor erhob sich abrupt, starrte jedoch weiterhin auf die Leiche.
    »Das klingt brutal«, sagte er.
    »Es sieht auch brutal aus«,