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Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)

Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)

Titel: Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)
Autoren: Sarah Kassem
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Hund. Er hatte beide, seine Mutter und seinen Vater, schon unendliche Male nach einem Hund gefragt und gebettelt und gefleht, aber sie kauften ihm keinen Hund, und wie es aussah, sahen die Chancen jetzt schlecht aus, dass sie ihm jemals einen kaufen würden. Ihm war bewusst, dass die gestrige Geschichte mit dem Katzenbaby diese Chancen hatte ins Unsichtbare schrumpfen lassen. Bestimmt wusste sein Vater schon Bescheid. Seine Eltern hatten sich getrennt, als Viktor zwei Jahre alt war, allerdings teilten Helena und Immanuel Abies eine langjährige und partnerschaftliche Freundschaft. Immanuel kümmerte sich um die Steuern des Schneiderateliers, Helena schneiderte ihm fast seine komplette Garderobe, Viktor betrachteten sie als gemeinsames Projekt und informierten einander penibel über jede Kleinigkeit in seinem Leben. Bestimmt wusste es auch schon jeder in Bresolino Views, der Firma seines Vaters. Viktor konnte sich nicht entscheiden, ob er deswegen schlechte Laune haben oder traurig sein sollte, ob er ein schlechtes Gewissen haben sollte oder ob es nur Gems Schuld war. Das alles regte Viktor auf, und im Sportunterricht lief er seine Aufwärmrunden in der Halle so schnell, dass ihm schwindlig wurde und er Nasenbluten bekam. Den Rest der Sportstunde musste er auf der Bank sitzen, mit Toilettenpapierknäueln in beiden Nasenlöchern, musste durch den Mund atmen, wovon er jedoch Durst bekam, und als er etwas trank und schluckte, bekam er Überdruck in seinen Ohren und konnte kaum mehr etwas hören. Am Ende des Schultages ging er wütend auf Oded zu, der ihn von der Schule abholte, grummelte vor sich hin, warf seinen Rucksack auf den Rücksitz des Autos und wollte nur noch nach Hause.
    Am Abend saß er auf seinem Bett und blätterte wieder in seinem „Star Wars“-Stickeralbum. Er hatte auch sein Fußballalbum neben sich, das er regelmäßig und sehr gerne durchsah, weil es vollständig war. Es hatte sehr lange gedauert, alle Aufkleber zusammenzubekommen. Gerald van den Berg und er saßen lange Nachmittage zusammen, diskutierten jeden Aufkleber und tauschten so lange, bis Viktor sein Album von Anfang bis Ende voll hatte. Das Gefühl, den letzten Aufkleber von René Higuita in dem dafür vorgesehenen Feld aufzukleben, war wunderbar; Viktor erinnerte sich noch ganz genau an jenen Tag. Die Euphorie, mit der Hand über den Sticker zu streichen und zu wissen, dass es vollbracht war. Jetzt blätterte er in seinem „Star Wars“-Album und dachte an den Moment der Vollendung, der noch in weiter Zukunft lag, da das Album nicht einmal zur Hälfte gefüllt war, und träumte vom Gefühl, über den letzten Sticker mit der Hand zu streichen, um sicherzugehen, dass keine Luftblasen darunter blieben. Und dann zu jubeln.
    Plötzlich sah er aus den Augenwinkeln eine Bewegung am Fenster. Es war eine warme Nacht und alle Fenster waren auf. Er schaute hin, dachte im ersten Moment, dass es eine Motte sei, und hatte Angst, dass sie ins Zimmer fliegen würde. Er würde dann seine Mutter holen müssen, damit sie sie rauswirft. Motten, Falter – Viktor fand sie alle gruselig. Er hatte mal einen Falter angefasst und danach hatte er ganz staubige Hände von dem Puder, das der Falter auf den Flügeln hatte, und außerdem war sein dicker Körper extrem eklig.
    Das Flattern verharrte ein paar Sekunden auf der Stelle in der Luft, dann flog das Ding ins Zimmer hinein und setzte sich oben auf seinen Schrank. Viktor starrte ängstlich darauf, besonders als er sah, dass es keine Motte war, sondern ein Vogel.
    Es war ein sehr kleiner Vogel, mit einem langen, sehr dünnen Schnabel und Federn in fluoreszierendem Blau, mit Sprenkeln von Pink und Neongrün. So einen Vogel hatte Viktor noch nie gesehen und er wusste nicht, was er machen sollte. Er wollte seine Mutter rufen, hatte aber Angst, dass der Vogel aufflattern und ihn mit seinem langen, spitzen Schnabel attackieren würde, wenn Viktor aufsprang oder laut schrie. Oded hatte ihm mal erzählt, dass man bei Tieren keine plötzlichen Bewegungen machen sollte, denn sie können Angst riechen, und dann werden sie aggressiv, und dann kommt der Beißreflex.
    Der Vogel schaute vom Schrank auf Viktor herunter, und Viktor starrte zum Schrank hoch. Es verging eine Weile. Der Wind wehte sanft ins Zimmer hinein, draußen war es schon ganz dunkel und die Vorhänge flatterten sachte in der nächtlichen Brise.
    Der Vogel schüttelte sich, presste den Schnabel an seine Brust und blähte die Federn auf; er sah nun wie eine
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