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Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)

Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)

Titel: Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)
Autoren: Sarah Kassem
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gesagt, dass ich ganz tolle Federn habe.“ Er torkelte schwindelig hin und her. „Übermorgen besuche ich sie wieder! Hast du noch Snickers? Ich habe Hunger ! Mir ist warm!!“
    Viktor gab ihm den Rest vom Snickers.
    „Und warum kommst du mich besuchen?“, fragte er dann.
    Cristobal kaute, überlegte, sah angestrengt zur Decke, kaute wieder und zuckte dann mit den Schultern.
    „Ich weiß nicht“, sagte er schließlich. „Es steht in meinem Stundenplan, dass ich dich viermal die Woche abends besuchen soll. Ich habe das Eignungsfeststellungsverfahren gewonnen“ – er flog hoch und schlug eine Pirouette –, „und das bedeutet, dass ich die Ausbildung mache und dich immer besuchen soll. Wenn meine Ausbildung fertig ist, soll ich dir dann etwas sehr Wichtiges zeigen. Ich weiß noch nicht was, aber es ist sehr wichtig.“ Er machte ein paar Flickflacks und betonte noch einmal stolz: „Sehr wichtig!“
    Viktor nickte und war ein bisschen aufgeregt. „Willst du spielen?“, fragte er dann. Cristobal wollte mit den Plastiksoldaten spielen, also teilten sie die Spielfiguren und reihten sie zu Korps auf. Viktor nannte seinen Kommandeur „General Garibaldi“ und setzte ihn in ein ferngesteuertes Auto, Cristobal seinen „Pius III .“, setzte ihn in den Traktor auf den Beifahrersitz und bezog Stellung hinter dem Lenkrad. Er fuhr los, und Viktor lenkte sein Auto mit der Fernsteuerung: es galt, so viele Soldaten der gegnerischen Mannschaft wie möglich umzunieten. Viktors Armee gewann und Cristobal drehte im Traktor ein paar Ehrenrunden durchs Zimmer, bis er unter dem Bett gegen die Wand fuhr und der Wagen umkippte. Er kroch dann ganz staubig hervor und Viktor musste ihm helfen, die Wollmäuse aus seinen Federn zu picken.
    Cristobal schaute auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass es schon sehr spät war und er jetzt gehen musste, um vor der Nachtruhe noch Meldung zu erstatten.
    Er flog zum Fenster, setzte sich auf das Fensterbrett und schaute Viktor lange an. „Danke für den Honig! Bis bald!“, rief er dann und flog weg. Viktor sah ihm nach, ein winziges, vibrierendes Ding, das so schnell mit den Flügeln flatterte, dass die Flügelbewegungen nur als trüber, kleiner Nebel um den Körper sichtbar waren.
     

Androeceum

     
     
    A m nächsten Morgen saß Viktor am Küchentisch und aß Froot Loops aus seiner Spiderman-Frühstücksschüssel.
    Seine Mutter saß ihm gegenüber und redete am Telefon irgendwas mit irgendjemand über irgendwelche Stofflieferungen. Sie war wie jeden Morgen höchst adrett gekleidet. Heute hatte sie ein pfirsichfarbenes Kostüm an. Ihr Empfangsraum im Atelier war ebenfalls pfirsichfarben – angefangen beim Empfangstresen und Teppich über die Couch und die Tapeten bis hin zu den Dekorationsartikeln. Helena hatte sich bei der Einrichtung des Ateliers überlegt, dass die Pfirsichfarbe eine beruhigende, harmonische, elegante und dementsprechend verkaufsfördernde Farbe war. So achtete sie immer darauf, farblich passend zu ihrem Empfangsraum gekleidet zu sein und nähte sich ihre Kostüme in endlosen Variationen von Beige, Koralle, Lachs, Sand, Siena, Sahara, Isabell, Chamois und Ecru. Viktor hatte im Farbmusterfächer der Schneiderwerkstatt gesehen, dass es viele unterschiedliche Namen für fast dieselbe Farbe gab; er sah keinen großen Unterschied zwischen Siena und Ecru, aber er fand die Namen schön. Manchmal fand Viktor, dass seine Mutter nackt aussah, denn ihre pfirsichfarbenen Kostüme hatten immer dieselbe Farbe wie ihre Haut, und aus der Entfernung konnte man meinen, dass sie nichts anhatte. Sogar ihre hochhackigen Schuhe waren im gleichen Pfirsichton. Der Rock zum Kostüm endete kurz oberhalb der Knie, was ihre muskulösen Waden stark betonte und die Schuhe, die exakt dieselbe Farbe hatten wie die Haut an ihren Beinen, den optischen Effekt verursachten, als ob die Schuhe eine Verlängerung ihrer Beine wären, was dazu führte, dass Helena noch größer schien, als sie tatsächlich war. Ihr muskulöser Oberkörper, die gewaltige Brust und die breiten Schultern wurden umrahmt von einer eierschalenfarbenen Bluse und dem pfirsichfarbenen Blazer, die Perlenkette an ihrem Hals war aus apricotfarbenen Südseeperlen und das Lederarmband ihrer Uhr war pfirsichbeige. Das Einzige, was die chamäleonartige Ton-in-Ton-Harmonie durchbrach, waren Helenas rötliche Haare und ihr dunkelroter Lippenstift.
    Helena rührte gerade gedankenverloren mit einem Löffel in ihrem Kaffee und hörte
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