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Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)

Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)

Titel: Betula Pendula: Erster Zyklus: Frühling (German Edition)
Autoren: Sarah Kassem
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angestrengt zu, was die Person am Ende der Telefonleitung sagte. Viktor wusste, dass in ein paar Monaten eine Modenschau anstand , dass Helenas Atelier den Auftrag hatte, irgendwelche Sachen für irgendwelche Menschen nähen zu müssen, und dass es im Moment sehr viel zu tun gab: Die Nähmaschinen ratterten ununterbrochen, ständig kamen irgendwelche großen Kisten an, ständig wurde telefoniert, Maß genommen, und fremde Menschen spazierten ein und aus und verlangten nach Helena. Viktor fand das gruselig.
    Als sie fertig telefoniert und aufgelegt hatte, legte Viktor seinen Löffel hin, räusperte sich und verkündete:
    „Mama, ich will Harfe spielen!“
    Seine Mutter blickte kurz auf, sah ihn mit leerem Blick an, blickte wieder nach unten, machte sich ein paar Notizen in ihrem Terminkalender und murmelte: „ Okay, Viktor.“
    Er nahm seinen Löffel wieder in die Hand, nahm einen weiteren Löffel Froot Loops, kaute angestrengt und konzentriert, schluckte und wiederholte: „Mama, ich will Harfe spielen lernen.“
    Sie blickte irritiert von ihrem Terminkalender auf, legte den Stift ordentlich in die Mitte der Seite, faltete ihre Hände auf dem Tisch und sah ihn durchbohrend an: „Was?“
    „Ich will Harfe spielen lernen!“
    „Harfe?“
    „Ja.“
    „Harfe, das Instrument?“
    „Ja.“
    „Weißt du überhaupt, was eine Harfe ist?“
    „Ja. Das ist ein Instrument, was man mit den Fingern zupft, wie eine Gitarre, aber groß. Man sitzt daneben und macht damit Musik.“
    Helena sah ihn angestrengt an. „Ist das dein Ernst?“
    Viktor nahm einen weiteren Löffel in den Mund, kaute sorgfältig, dachte nach und nickte dann: „Ja.“
    Helena klappte ihren Terminkalender zu, sammelte die ausgebreiteten Blätter und stand auf.
    „Heute Nachmittag bist du eh bei deinem Vater. Dann kannst du ihm die frohe Botschaft verkünden. Und jetzt komm. Es ist schon spät, du musst zur Schule.“
     
    Viktor verbrachte drei Nachmittage die Woche bei seinem Vater. Immanuel Abies war Inhaber von Bresolino Views, einem der weltweit größten Hersteller von Elektronenmikroskopen, mit Sitz in der Kleinstadt Hedera Helix und weiteren Filialen und Fabriken in Helsinki, Abu Dhabi, Shanghai und Caracas. Viktor liebte die Firma, denn erstens war es das höchste Hochhaus in Hedera Helix, zweitens waren alle Angestellten der Firma sehr nett zu ihm, und drittens gab es in der Kantine die besten Crème Caramels, von denen er so viele er wollte bekam, ohne irgendetwas bezahlen zu müssen.
    Seine Nachmittage dort liefen immer nach demselben Schema ab und waren immer gleich strukturiert, was Viktor ebenfalls liebte. Nie geschah irgendwas Unvorhergesehenes, nie fand irgendwas Überraschendes statt, alles war immer gleich und gleichmäßig und vorhersehbar. Sein Vater holte ihn von der Schule ab, sie gingen in die Kantine und aßen zu Mittag. Heute bekam Viktor ein paniertes Schnitzel, Fritten und einen kleinen Salat. Sein Vater schnitt ihm das Schnitzel in kleine Stückchen und achtete penibel darauf, dass Viktor den ganzen Salat aufaß. Er musste sogar das Salatblatt und die Petersilie essen, die nur als Dekoration für das Schnitzel gedacht war en.
    „Papa, ich will Harfe spielen“, sagte Viktor, als sein Vater mit dem Schnitzelschneiden fertig war.
    „Ja. Komm Viktor, iss. Guten Appetit.“
    Viktor nahm ein Stück Schnitzel, kaute darauf, und wiederholte: „Papa, ich will Harfe spielen.“
    Sein Vater hielt inne. „Was?“
    „Harfe. Ich will lernen, wie man Harfe spielt.“
    „Was sagt denn deine Mutter dazu?“
    „Sie hat Ja gesagt.“
    „Alles klar, Viktor. Iss jetzt deinen Teller auf. Wir reden später darüber.“
    Nach dem Mittagessen gingen sie immer aufs Dach des Hochhauses, wo sein Vater eine Zigarette rauchte und Viktor sich den Himmel und die umliegende Stadt durch das große Teleskop ansah, das dort angebracht war. Weil aber Viktor noch zu klein war, um durch das Okular des Teleskops durchblicken zu können, kletterte er immer auf einen Stuhl. Sein Vater hatte auf dem dunkelgrünen Stoff mit Tipp-Ex groß „VIKTOR“ geschrieben und das gestickte Logo der Firma, ein Auge inmitten einer weißen Blume, bildete den Punkt auf dem „i“ in Viktors Namen.
    Nachdem sein Vater zwei Zigaretten zu Ende geraucht und Viktor die Umgebung von Hedera Helix gründlich geprüft und alle Wolkenformationen begutachtet hatte, fuhren sie mit dem Aufzug in den Keller , und Immanuel Abies lieferte Viktor in der Überwachungszentrale der
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