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Betrug und Selbstbetrug

Betrug und Selbstbetrug

Titel: Betrug und Selbstbetrug
Autoren: Robert Trivers
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solche Voreingenommenheiten sich negativ auf unser biologisches Wohlergehen auswirken. Warum vermindern und zerstören wir die Wahrheit? Warum verändern wir Informationen nach ihrem Eintreffen, um so bewusst zu falschen Erkenntnissen zu gelangen? Warum hat die natürliche Selektion auf der einen Seite unsere großartigen Wahrnehmungsorgane entstehen lassen, nur um andererseits dafür zu sorgen, dass die gewonnenen Informationen systematisch verfälscht werden? Oder kurz gefragt: Warum praktizieren wir die Selbsttäuschung?
    Was den Eltern-Kind-Konflikt angeht, hatte ich 1972 einen Geistesblitz: Mir kam der Gedanke, die Täuschung anderer könne die Triebkraft für die Selbsttäuschung liefern. Entscheidend war dabei die Erkenntnis, dass der Konflikt zwischen Eltern und Kind weit hinausgeht über die Frage, wie viel die Eltern in das Verhalten des Kindes investieren. Nachdem ich erkannt hatte, dass der Konflikt sich auf die Persönlichkeit des Kindes bezieht, konnte ich mir leicht vorstellen, wie Täuschung und Selbsttäuschung die Identität des Kindes zum Nutzen der Eltern prägen können. Ebenso kann man sich vorstellen, dass Eltern nicht nur Selbsttäuschung praktizieren, sondern sie auch erzwingen  – sie setzen sie beim Kind in Gang, was für dieses ein Nachteil ist, den Eltern aber nützt. Schließlich sind die Eltern in einer vorteilhaften Position: Sie sind größer und stärker, verfügen über die erforderlichen Ressourcen und haben in der Kunst der Selbsttäuschung mehr Übung.
    Die allgemeinere Aussage lautet: Wir täuschen uns selbst, um andere besser zu täuschen. Um andere hinters Licht zu führen, sind wir unter Umständen versucht, Informationen in unserem Inneren auf alle möglichen unwahrscheinlichen Arten neu zu organisieren, und das größtenteils unbewusst. Wenn wir von der einfachen Annahme ausgehen, dass Selbsttäuschung vor allem eine Offensivfunktion hat – die sich an der Fähigkeit bemisst, andere zu täuschen –, können wir eine Theorie und Wissenschaft der Selbsttäuschung aufbauen.
    Bei unserer eigenen Spezies sind Täuschung und Selbsttäuschung zwei Seiten derselben Medaille. Wenn wir mit Täuschung nur die bewusst vorgetragene Unwahrheit – also regelrechte Lügen – meinen, lassen wir die viel größere Kategorie der unbewussten Täuschung einschließlich der aktiven Selbsttäuschung außer Acht. Betrachten wir hingegen nur die Selbsttäuschung, ohne ihre Wurzeln in der Täuschung anderer zu erkennen, übersehen wir ihre Hauptfunktion. Dann könnten wir der Versuchung erliegen, uns die Selbsttäuschung als Verteidigungsstrategie schönzureden, obwohl sie in Wirklichkeit meist einen Angriff darstellt. Hier werde ich Täuschung und Selbsttäuschung als Aspekte eines einzigen Themas behandeln, die jeweils voneinander zehren.
    Die Evolution der Selbsttäuschung
    In diesem Buch betrachten wir das Thema unter Evolutionsgesichtspunkten. Welchen Vorteil hat es, Selbsttäuschung zu praktizieren, wenn man Vorteil als positiven Effekt für Überleben und Fortpflanzung definiert? Wie hilft uns die Selbsttäuschung beim Überleben und Fortpflanzen – oder genauer gesagt: Wie hilft sie unseren Genen, zu überleben und sich fortzupflanzen? Man kann es auch anders formulieren: Wie begünstigt die natürliche Selektion die Mechanismen der Selbsttäuschung? Wie wir noch genauer erfahren werden, verfügen wir über eine große Zahl solcher Mechanismen, die möglicherweise mit erheblichen Kosten für unseren Organismus verbunden sind. Worin liegt ihr Nutzen? Wie steigern solche Mechanismen den Fortpflanzungs- und den genetischen Erfolg des Einzelnen?
    Nach dem biologischen Ansatz definiert man »Vorteil« unter den Gesichtspunkten von Überleben und Fortpflanzung, in der psychologischen Betrachtungsweise dagegen bedeutet »Vorteil«, dass man sich wohler fühlt oder glücklicher ist. Wir alle wollen uns wohl fühlen, und dabei hilft uns die Selbsttäuschung – deshalb findet sie statt. Darin liegt, wie wir noch genauer erfahren werden, eine gewisse Wahrheit, aber groß ist sie nicht. Der wichtigste biologische Einwand lautet: Selbst wenn besseres Wohlbefinden wie erwartet mit einem größeren Überlebens- und Fortpflanzungserfolg gekoppelt ist, wissen wir noch nicht, warum wir einen so zweifelhaften – und aufwendigen – Mechanismus wie die Selbsttäuschung zur Steuerung unseres Glücksgefühls benutzen sollten. Denn uns selbst zu belügen hat seinen Preis. Wir stützen uns mit
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