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Besser

Besser

Titel: Besser
Autoren: Doris Knecht
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junge Frau hatte sie ein Jahr lang in Frankreich bei einer Familie gelebt und gearbeitet, hatte dort Französisch gelernt und wie man echte Crêpes macht: Man braucht Mehl, Eier, Milch, zerlassene Butter und Sprudelwasser, und es ist wichtig, dass man die Zutaten genau in dieser Reihenfolge mit dem Handmixer zu einem sehr flüssigen Teig zusammenrührt – mit dem Mixer, nicht mit dem Schneebesen, damit es keine Klümpchen gibt –, den man dann ganz dünn und mit sehr wenig Öl in der Pfanne brät, wobei man aufpassen muss, dass die Herdplatte auf keinen Fall zu heiß ist. Danach tut man Puderzucker drauf oder Marmelade oder Cremespinat oder in Obers geschmorte Champignons. Sie sang uns immer dasselbe Schlaflied vor, ein altes Gute-Nacht-Lied im Dialekt ihrer eigenen Kindheit. Sie liebte alles Süße. Sie hasste Kohl, oder mehr noch den Geruch von gekochtem Kohl. So arm, sagte sie, könne sie gar nicht mehr werden, dass sie diesen Geruch noch einmal zu ertragen bereit wäre: Den Geruch ihrer Kindheit, den Geruch der Armut, lieber lebe sie von kaltem Haferbrei, als ihr Haus jemals wieder mit dem Gestank von gekochtem Kohl zu verseuchen. Solange mein Vater noch lebte, briet sie jeden Sonntag Wiener Schnitzel und kochte dazu die Fisolen, die sie in unserem kleinen Garten zog und geschnitten in Plastiksäcken einfror. Nachdem er tot war, gab es keine Schnitzel mehr, kein Sonntagsessen, eigentlich nicht mal mehr Sonntage, und Fisolen zog sie dann nur noch ein oder zwei Mal. Beim letzten Mal vertrockneten sie an den Stangen, bis auf die, die wir Kinder abnahmen, denn meine Mutter kümmerte sich nicht mehr um den Garten. Sie konnte nur einen Witz, und den erzählte sie immer wieder. Sie war oft überfordert und schlecht gelaunt, auch schon früher, als wir noch eine intakte Familie waren. Aber als wir noch klein waren, schlug sie uns nie, anders als unser Vater, der oft mal hinlangte. Bei ihr fing das erst mit ihrem Trinken an, aber man konnte ihren Schlägen meistens relativ leicht entkommen. Sie ging gern spazieren. Sie liebte Jesolo, aber nach dem Tod unseres Vaters war sie nie wieder dort. Wir fuhren überhaupt nur noch ein einziges Mal zusammen weg, nach Salzburg, zu ihren Eltern, in ihr Heimatdorf. Ihr Lächeln war schön, und sie konnte so laut lachen, dass es uns als Kinder vor anderen Leuten peinlich war. Aber nachdem mein Vater gestorben war, lächelte sie kaum mehr, und wenn sie lachte, klang es bitter. Meinen Vater habe ich kaum gekannt. Als ich klein war, arbeitete er die meiste Zeit, und als ich größer wurde, war er tot.
    Und meine Mutter versank. Ich weiß jetzt, dass sie krank war, ich bin jetzt bereit, das zu akzeptieren. Ich bin jetzt imstande, die Agonie, in die meine Mutter nach Vaters Tod fiel, als Depression zu begreifen, als Krankheit, für die sie nichts konnte. Ich bin bereit, das Trinken als Teil dieser Krankheit zu begreifen, als Versuch der Selbstmedikation, als Sucht ohne Ausweg, als Zeichen ihrer Hilflosigkeit. Ich bin bereit zu akzeptieren, dass sie da nicht selber heraus konnte. Ich bin bereit, in mir ein gewisses Mitgefühl zuzulassen, ein Verständnis, dass sie niemanden hatte, der bei ihr war, der ihre Notlage erkannte und ihr Hilfe anbot. Ich bin bereit zu sehen, wie überfordert sie war, von der Verantwortung für uns, der sie nicht mehr gewachsen war, und von ihrem Leben. Von ihrer Trauer, ihrer Traurigkeit, ihrer Trostlosigkeit, ihrem Trinken, von ihrem Unglück und unserem Unglück und ihrer Unfähigkeit, etwas gegen unser Unglück zu tun, es auch nur irgendwie abzufedern.
    Aber ich bin nicht bereit, ihr zu verzeihen, dass sie uns nicht mehr lieben konnte, dass sie mich nicht mehr geliebt hat. Es treibt noch immer den furchtbarsten Schmerz durch mein Herz. Diesen Schmerz kann ich ihr nicht verzeihen. Ich kann ihr nicht verzeihen, dass sie mich verstieß, endgültig, indem sie mich nicht zurückholte. Mich nicht rettete. Dass sie mich meinem Schicksal überließ, meinem Verderben. Ich werde ihr das nicht verzeihen, niemals. Dass sie ihre Liebe von mir zurückzog, das vergebe ich ihr nicht. Die Liebe zu den eigenen Kindern sollte unverhandelbar sein, die Liebe zu den eigenen Kindern muss unangreifbar sein für Trauer und Schmerz und Krankheiten und Süchte, unantastbar, immerwährend.

[zur Inhaltsübersicht]
    Dreiundvierzig
    «Hat sich schon erledigt», sagte Jenny.
    «Was?»
    «Hast du meine Mail nicht gekriegt?» Verdammt. Richtig. Die wollte ich noch lesen, vergaß es dann aber
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