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Besser verhandeln - Das Trainingsbuch

Titel: Besser verhandeln - Das Trainingsbuch
Autoren: Unbekannter Autor
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erkennst du ihn: weiße Ziffern auf einem schwarzen Schild. Du biegst in diesen Weg ein, und deine Augen überfliegen bei jeder Abteilung die Namen der Beerdigungsinstitute. Der Name, den du gesucht hast, wird jetzt mit glänzenden schwarzen Buchstaben auf grauem Stein für dich sichtbar. Du betrittst die Abteilung.
    Ein kleines altes Männchen mit weißem tabakfleckigem Bart und Schnurrbart eilt euch hastig entgegen, um euch zu begrüßen. Er lächelt schüchtern, während seine Finger mit dem kleinen Abzeichen in seinem Knopfloch spielen. Er ist Angestellter des Beerdigungsinstituts und wird die Gebete für euch hebräisch hersagen, wie es seit vielen Jahren der Brauch ist.
    Du flüsterst einen Namen. Er nickt zustimmend mit einer vogelartigen Gebärde, er kennt das Grab, das du suchst. Er dreht sich um, und du folgst ihm; du steigst behutsam über die dicht nebeneinanderliegenden Gräber; hier ist der Platz sehr kostbar. Jetzt bleibt er stehn und streckt seine alte zittrige Hand aus. Du nickst, es ist das Grab, das du suchst, und er tritt zurück.
    Ein Flugzeug dröhnt über eure Köpfe hinweg, es ist im Begriff auf dem naheliegenden Flugplatz zu landen, aber du blickst nicht auf. Du liest die Worte auf dem Grabmal. Frieden und Ruhe ziehen in dein Gemüt ein. Die Spannung des Tages fällt von dir ab. Du hebst den Blick und nickst dem Mann leicht zu, der jetzt die Gebete sprechen wird.
    Er tritt wieder vor euch. Er fragt nach euren Namen, um sie in seine Gebete einzuschließen. Einer nach dem andern antwortet ihm. Meine Mutter. Mein Vater. Meine Schwester. Mein Schwager. Meine Frau. Mein Sohn.
    Die Gebete des Mannes sind ein mechanisches Geleier, ein unverständliches Geschnatter, das monoton von den Gräbern widerhallt. Doch ihr hört ihm gar nicht zu. Zahllose Erinnerungen erfüllen euer Denken, und für jeden von euch bin ich ein anderer Mensch. Schließlich sind die Gebete gesprochen, und der Mann bezahlt, der sich entfernt, um an anderer Stelle seinen Dienst zu versehen. Du suchst am Boden nach einem kleinen Stein. Du hältst ihn behutsam in der Hand, und gleich den andern, trittst du allein vor das Grabmal.
    Obwohl mich Kälte und Schnee des Winters und Sonne und Regen des Sommers umgeben haben, seitdem ihr das letztemal gemeinsam hier waret, sind eure Gedanken unverändert so geblieben, wie sie damals waren. Ich bin noch immer lebendig in eurer Erinnerung mit einer einzigen Ausnahme.
    Für meine Mutter bin ich das ängstliche Kind geblieben, das sich dicht an ihre Brust drückt und in ihren Armen Schutz sucht. Für meinen Vater bin ich der schwierige Sohn. Seine Liebe war schwer zu erringen, aber ebenso stark wie die meine für ihn. Für meine Schwester bin ich der strahlende jüngere Bruder, dessen Verwegenheit gleichzeitig Liebe und Besorgnis wachrief. Für meinen Schwager bin ich der Freund, mit dem er die Hoffnung auf den ersehnten Ruhm geteilt hat.
    Für meine Frau bin ich der Geliebte, dem sie sich in leidenschaftlicher Liebe hingab. Ein Kind besiegelte die Vereinigung. Für meinen Sohn - was ich für meinen Sohn bin, weiß ich nicht, denn er hat mich nicht gekannt.
    Jetzt liegen fünf Steine auf meinem Grab, und noch immer stehst du, mein Sohn, nachdenklich davor. Für alle andern bin ich ein Stück Wirklichkeit, nicht aber für dich. Warum zwingt man dich dann, hier zu stehen und um jemanden zu trauern, den du niemals kanntest?
    In deinem Herzen ist eine winzige harte Stelle - der Unwillen eines Kindes. Denn ich habe dich enttäuscht. Du konntest niemals wie andre Kinder prahlen: »Mein Daddy ist der Stärkste oder der Klügste, der Beste oder der Liebevollste.« Du hast mit dem stetig wachsenden Gefühl der Enttäuschung in bitterem Schweigen zuhören müssen, während andere diese Worte sprachen.
    Grolle mir deswegen nicht, mein Sohn, und verurteile mich nicht. Halte dein Urteil zurück, wenn du kannst, und höre die Geschichte deines Vaters. Ich war ein Mensch, also sündhaft und schwach. Obwohl ich zu Lebzeiten viele Fehler beging und viele Menschen enttäuschte, möchte ich dich nicht wissentlich enttäuschen. Höre mich an, mein Sohn, ich bitte dich, höre mich an und lerne von deinem Vater.
    Lasse dich jetzt von mir zum Anfang zurückführen, zum wirklichen Anfang. Denn wir, die wir aus einem Fleisch, einem Blut und einem Herzen sind, werden uns jetzt in dieser Erinnerung vereinen.
    Umzugstag 1. Juni 1925
    Ich gehe zurück bis zum Beginn meiner Erinnerungen, und das ist mein achter Geburtstag.
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