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Besessene

Besessene

Titel: Besessene
Autoren: S Hayes
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mehr weit«, rief sie mir zu. »Ich kann dich deutlich hören.«
    »Du solltest lieber in meiner Nähe bleiben«, rief ich ärgerlich zurück.
    Der Schnee verdeckte alles, was der Boden barg. Ich stolperte über unebene Stellen im Gras und über Steine und Baumwurzeln. Es war unheimlich hier so allein und ich versuchte, mich auf die Bäume zu konzentrieren, um mich zu beruhigen. Am besten gefielen mir die schlanken, eleganten Tannen, die bereitstanden wie auf den Einsatz der Musik wartende Tänzer, und die alten stämmigen Eichen mit ihren knorrigen und blasig aufgewölbten Stämmen. Ich malte mir aus, wie lange sie hier gestanden und wie viel sie schon gesehen hatten, sodass nichts auf der Welt sie mehr überraschen konnte, und tatsächlich entdeckte ich kurz darauf ein weises altes Gesicht in einem der Stümpfe eines gestutzten Astes. Da fiel ein Lichtstrahl durch die Bäume, was hieß, dass Genevieve ganz in der Nähe sein musste, und ich fragte mich, warum sie mir nicht längst schon geleuchtet hatte. Ungeduldig ging ich weiter, bis der Boden eben wurde und das Unterholz endete.
    »Was zum   …? Genevieve, bleib stehen!«
    Entsetzt schnellte meine Hand an den Mund. Ich hatte jetzt den gefrorenen See erreicht und sah, wie sie, den Kopf im Nacken, lachend auf ihm herumrutschte.
    »Ich bin noch nie Schlittschuh gelaufen, Katy. Es ist super, auch ohne Eislaufschuhe. Komm her, du kannst meine Partnerin sein.«
    Ich wollte sie auf keinen Fall erschrecken und versuchte, unbeeindruckt zu klingen. »Mir ist kalt und ich bin müde und ich will nicht aufs Eis. Komm, wir gehen zurück zum Auto.«
    »Nein«, protestierte sie lauthals. Sie schlitterte weiter und streckte dabei ein Bein nach hinten. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie auch noch eine Drehung gemacht hätte. »Du musst einfach mit mir tanzen. Es ist drei Uhr früh, wir haben uns ans Ende der Welt verirrt und der See ist so schön   …«
    Laut und gekünstelt lachte ich auf. »Aber er trägt vielleicht nicht   … denk doch daran, wie sie immer davor warnen, dünnes Eis zu betreten   … komm zurück zum Ufer.«
    Aber ihre Arme wirbelten jetzt wie die Propellerflügel eines Hubschraubers und sie sah so berauscht aus, dass ich einen Moment lang neidisch war. »Der Himmel ist ganz schwarz«, sang sie. »Wie polierter Gagat, besetzt mit funkelnden Diamanten. Vielleicht ist das alles schon morgen vorbei.«
    »Es wird auch morgen früh noch da sein«, versicherte ich ihr, »und dann laufen wir bei Tageslicht auf dem Eis und können besser sehen.«
    »Nein«, rief sie mir trotzig zu. »Ich will nicht mehr auf morgen warten. Von jetzt an mach ich nur noch, was ichwill und wann ich es will. Und der See wird nie mehr so zauberhaft sein wie heute Nacht.«
    Einen aberwitzigen Moment lang glaubte ich ihr. Der See sah so einladend aus im Mondschein und sie schien so frei. Ich dagegen war immer die Langweilige und Vernünftige gewesen und jetzt lockte sie mich zu sich heran.
    »Katy? Denk an all das, was wir nie zusammen machen konnten. Sie hat uns doch alles genommen. Du weißt, dass du zu mir gehörst. Du musst einfach bei mir sein.«
    Vorsichtig setzte ich einen Fuß aufs Eis und wusste im gleichen Moment, dass es nicht sehr dick war. Ich spürte, wie es sich bewegte, wie es unheilvoll knackte. Es war unfassbar, dass sich Genevieve so weit in die Mitte des Sees gewagt hatte.
    »Geh nicht mehr weiter«, rief ich ihr zu. »Ich komme dir entgegen, aber beweg du dich vorsichtig zurück und dann treffen wir uns in der Mitte.«
    »Ich hatte gerade eine super Idee«, rief sie, ohne auf meine Warnung zu achten. »Du kannst doch deinen Namen ändern   … so wie ich.«
    Ich ging ein paar Zentimeter weiter, obwohl sich alles in mir sträubte, das schützende seichte Ufer hinter mir zu lassen. »Warum sollte ich das tun?«
    »Weil du eine andere bist, als du immer geglaubt hast. Katy ist tot und auch Hope existiert seit über sechzehn Jahren nicht mehr.«
    Noch ein paar Zentimeter   … und ich zitterte am ganzen Körper vor Angst. »Aber ich fühle mich noch immer wie Katy.«
    »Vergiss Katy. Von jetzt ab kannst du sein, wer du willst.«
    Es war genau der richtige Zeitpunkt für die Frage, die ich ihr immer hatte stellen wollen, seit sie in mein Leben getreten war. »Wer ist Genevieve Paradis?«
    »Die gibt es nicht«, rief sie beinahe euphorisch. »Ich habe sie in einem Buch entdeckt. Als ich den Namen las, da wusste ich, dass ich so sein wollte wie sie. Ich habe mich
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