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Berlin blutrot

Berlin blutrot

Titel: Berlin blutrot
Autoren: u.a. Sebastian Fitzek
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Ahnung.“
    „Haben Sie nie telefoniert?“
    Ich rollte die Augen. Was für ein dummer Psychiater.
    „Zu gefährlich. Hab nicht mal ein Telefon. Nur tote Briefkästen.“
    „Tote …“ Er runzelte die Stirn, beließ es dabei. „Und die Mama?“
    „Ja, vermutlich gab 's auch mal eine Mama.“
    Er schlug Hypnose vor, bei einem Kollegen.
    „Keine Kollegen“, sagte ich. „Sie lösen mein Problem, sonst niemand. Und jetzt will ich wissen, was Sie die ganze Zeit schreiben.“
    „Ich mache mir Notizen. Was Sie sagen, was ich denke.“
    „Her damit.“
    Die Kifferaugen wurden wieder ein bisschen streng, auf der Kladde ballten sich zwei niedliche, faltige, grau behaarte Fäustchen. „Nein, das ist nicht üblich.“
    Ich beugte mich vor. „Hab ich ,Nein, das ist nicht üblich‘ gehört?"
    „Ja. Das ist nicht üblich.“
    „Also ,Nein‘ oder ,Ja‘?“
    „Nein.“
    Meine Zehen zuckten, meine Finger zitterten. Hundert Euro die Stunde, und der Glibbergreis wurde renitent! Ich tastete nach dem Hattori in der Jackentasche. Holgs kausale Zusammenhänge, immerhin die hatten sich bewährt: Wird einer renitent, respektiert er dich nicht. Respektiert dich einer nicht, ist er gefährlich. Ist einer gefährlich, knips ihn aus.
    Zehn, sagte eine Stimme in meinem Kopf.
    Die Fäustchen öffneten sich. „Wenn Sie versuchen, sich an Ihre Eltern zu erinnern, was kommen da für Gefühle?“
    Neun, sagte die Stimme.
    Scheißverdammt, dachte ich bei Acht, wer glaubt bei durchgeschnittener Kehle an Selbstmord? „Das“, sagte ich und zeigte auf die Kladde, „gehört mir. Es ist mein Leben.“
    „Es ist meine Wahrnehmung Ihres Lebens.“
    „Verfluchter Besserwisser.“
    Sieben.
    Sechs.
    „Wollen Sie gesund werden?“, fragte er.
    „Seh ich aus, als hätte ich Schnupfen?“
    Er schmunzelte. „Wenn Sie gesund werden wollen, müssen Sie meine Regeln befolgen.“
    Ich lachte. Es wurde immer besser. „Alter Mann, fürs Protokoll: Nur meine Regeln gelten. Aufschreiben. Nur seine Regeln gelten.“
    Er schmunzelte und schrieb.
    „Fein. Dick unterstreichen. Und dann her mit dem Schulheft.“
    „Dann“, sagte er, „können wir uns leider nicht wiedersehen.“
    „Drei“, sagte ich.
    „Drei was?“
    „Zwei“, sagte ich.
    „Zwei was?“
    „Eins“, sagte ich.
    „Null“, sagte er.
    Ich nickte. Wir verstanden uns wirklich allmählich, mein Psychiater und ich.
    Er lächelte und schlug das Notizbuch zu. „Sitzung beendet.“
    „Eine Sache noch“, sagte ich und umschloss den Griff des Hattori.
    Er schüttelte den Kopf. „Beim nächsten Mal.“
    „Scheißregeln“, sagte ich, stand auf und ging und wurde draußen unsichtbar. Sechzehn Jahre Erfahrung: Ausknipsen ohne Vorbereitung, das geht. Ausknipsen ohne Zeit, das geht nicht.
    Beim Italiener aufs Klo, bei Späthippie Albert eine Stunde Schlaf auf dem Sperrmüllsessel. Anschließend zwei Tage Brandenburg, ein Tag Zehlendorf, ein Durcheinander an Namen, Vergangenheiten, Verkleidungen, Dialekten, und die ganze Zeit ließ mich die Kladde nicht los. Was hatte der da reingeschrieben? Warum wollte der mich das nicht lesen lassen? Wusste der was über mich, was ich nicht wusste?
    Zwei Tage vor der nächsten Sitzung öffnete ich gegen ein Uhr morgens die Tür der Kanzlei. Dreißig Zentimeter Spiel, dann fängt sie an zu knarren, mir reichten zwanzig, dann war ich drin und hatte keinen Laut verursacht. Eine Stunde später war klar, dass die Klientenakten im halbantiken Schreibtisch im Arbeitszimmer verstaut sein mussten. Schreibtischtüren und –schubladen sind gefährlich, was da alles knarzen, rascheln, kullern, quietschen kann. Zwanzig Minuten pro Tür, zehn pro Schublade, um fünf Uhr morgens war Abmarsch, 57 Minuten vor Sonnenaufgang.
    In einem Gebüsch im Viktoriapark zog ich Albert an, im Hauseingang rieb ich mir Marihuana in die Haare, im Wohnungsflur streckte ich für alle Fälle zwei Finger zum V, aber die schwulen Designer schnarchten noch. Auf der Sperrmüllmatratze lag eine Frau, die ich noch nie gesehen hatte, ich warf sie raus und setzte mich schlafen.
    Am Vormittag, als die Wohnung leer war, in die Spießerklamotten von Klaus-Peter, dem frühverrenteten Sachbearbeiter vom Finanzamt Friedrichshain-Kreuzberg, mit S-Bahn und Bus zu der Eisenbahnersiedlung, wo Klaus-Peter eine Hütte hat. Rein in den Sessel, Kladde auf den Schoß. Mein Herz, sonst ein unbeirrbares Stück Stahl, das nichts anderes kannte als einen gepflegten 60er-Takt, schlug plötzlich schneller, und
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