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Beiss mich - Roman

Beiss mich - Roman

Titel: Beiss mich - Roman
Autoren: Eva Voeller
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sich im Gegensatz zu seiner bereits nach drei Schritten im Freien in ein feucht und schlaff herabhängendes Gekräusel verwandelt. Dem Haar des Mannes schien indessen das Schneetreiben nichts auszumachen. Lediglich eine schmale schwarze Locke fiel ihm ins Gesicht, jedoch auf elegante Art, gerade so, als hätte ein Figaro von Rang sie exakt so hindekoriert, um den perfekten Schwung der hohen Stirn und den kühnen Schnitt der Nase zu betonen.
    Trotz des unübersehbaren Ausdrucks von Frustration, den der Fremde zur Schau trug, war er für einen Mann hinreißend schön, und das sage ich ohne die geringste Übertreibung. Nicht der kleinste Makel störte die Vollkommenheit dieses Männerantlitzes, weder Narben noch Mitesser noch wuchernde Nasenhaare (was Letztere betrifft, so habe ich mich im Laufe der Jahre zwangsläufig zu einer Art Expertin entwickelt).
    Ja, ich musste es neidlos zugeben: Hier sah ich ihn vor mir, den Fleisch gewordenen Traum meiner Jungmädchenphantasien, das männliche Gegenstück all dessen, was ich mir für mich selbst immer an Schönheit erträumt hatte. Aus unmittelbarer Nähe schien er mir noch größer als aus der Ferne, und der Körper, der in dem edlen Kaschmir steckte, wirkte geschmeidig und durchtrainiert.
    Er hatte mich die ganze Zeit angeschaut, als ich auf ihn zugekommen war. Sein Blick war unergründlich, doch ich hatte trotzdem den unerklärlichen Eindruck, auf irgendeine Weise einer Prüfung unterzogen zu werden, ohne dieses Gefühl jedoch als unangenehm zu empfinden.
    Er trat einen Schritt zur Seite und machte mir höflich Platz, als ich auf das Tor zuging. Die Hand schon auf der Klinke, blieb ich stehen und gönnte mir einen ausgiebigeren Blick auf den Kaschmirschönling.
    Ich deutete auf das Praxisschild. »Sie trauen sich wohl nicht. Kann ich nachfühlen. Für mich ist es auch immer ein Gang nach Canossa.«
    Zum ersten Mal fiel mir jetzt auch seine Blässe auf. Während meine eigenen Wangen in der Kälte brannten und das taube Gefühl in meiner Nase den zwingenden Schluss nahelegte, dass sie einer Glühbirne nicht unähnlich sah, zeigte sich im Gesicht meines Gegenübers nicht der leiseste Hauch von Rot. Viel später sollte ich nicht ohne eine gewisse morbide Befriedigung erkennen, wie sehr dieser äußere Aspekt überkommenen Klischees entsprach, doch zu diesem Zeitpunkt unserer ersten Begegnung fand ich es lediglich interessant und attraktiv, denn es war keineswegs so, dass sein Gesicht krankhaft bleich gewesen wäre. Eher wirkte es durchgeistigt und auf eine bestimmte intellektuelle Art, die mich von jeher angesprochen hatte, allem Weltlichen entrückt. So entrückt, dass er es anscheinend nicht für nötig hielt, auf meine launige Bemerkung zu erwidern.
    »Sie waren vor mir da«, versuchte ich es erneut, während ich das Tor aufstieß. »Ich habe gesehen, dass Sie schon die ganze Zeit hier stehen. Bitte sehr. Ich überlasse Ihnen gern den Vortritt.« Ich würde ohnehin vor ihm drankommen, denn ich hatte andere Dinge im Sinn als Bohren oder Schleifen, doch das konnte er ja nicht wissen. Warum sollte ich ihm nicht die Angst nehmen, dem armen Kerl?
    Offenbar hatte er üble Erfahrungen mit Zahnärzten, und zu allem Überfluss hatte er vermutlich Schmerzen, denn es konnte sich nicht um eine Routineuntersuchung handeln, da heute Sonntag war. Rainer hatte Notdienst und stand nur für wirklich dringende Fälle zur Verfügung. Ich selbst hielt mich auch für einen dringenden Fall, wenn auch nicht aus zahnärztlicher Sicht.
    »Kommen Sie schon«, forderte ich den Fremden gutmütig auf. »Frisch gewagt ist halb gewonnen!«
    Die grauen Augen schauten ausdruckslos auf mich herab. Rückblickend bilde ich mir ein, dass gerade in diesem Moment in ihren Tiefen ein winziges goldenes Licht aufglomm, doch da ich häufig dazu tendiere, bestimmte Ereignisse und Begegnungen im Nachhinein mit allerlei farbigen Details anzureichern, können Sie meinen Eindruck von aufkeimendem männlichem Interesse genauso gut meiner überbordenden Phantasie zuschreiben. Wahrscheinlich sah er mich nur deshalb an, weil ich ihm im Weg stand.
    »Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass Herr Doktor von Stratmann ein fähiger Zahnarzt ist.« Ich machte eine Kunstpause, um meinen nächsten Worten bessere Ausdruckskraft zu verleihen. »Er ist nämlich mein Mann.«
    Ich streckte die Hand aus und zupfte an einem Kaschmirärmel. »Jetzt kommen Sie schon rein, sonst frieren Sie sich noch die Füße ab. Er wird Sie schon nicht
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