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Beifang

Titel: Beifang
Autoren: Ulrich Ritzel
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vor allem ein gutes Stück bergauf, aber der Mann meinte, ja doch, das ginge wohl, und Marianne deutete ein Kopfnicken an, kehrte zu ihrem Rad zurück und kniete sich nieder, um wenigstens einen Teil der Beeren wieder aufzusammeln, die aus den Kannen gerollt waren. Sie hatte das Gefühl, das ganze Dorf würde ihr dabei zusehen und hätte vorher schon zugesehen ...
    Was erst wird Otto sagen, wenn er es erfährt?
    Und wenn? Dieses Altersheim hatte doch sie nicht eingerichtet. Sie stieg auf und trat in die Pedale, so gut es eben geht, wenn einem die Knie zittern.
     
    An diesem Abend kam Otto früh zurück, kurz vor sechs Uhr hörte sie den gleichmäßigen raschen Takt, mit dem die beiden Krücken und das eine Bein abwechselnd auf dem Gehsteig aufsetzten, eigentlich hörte man nur die Krücken. Marianne hatte einen Teil der Beeren mit Magermilch und Quark zusammengerührt, den löffelte er eilig, denn er wollte noch am Abend zu einer Rommelfeier der Ortsgruppe, »du weißt doch, Tobruk ist gefallen!«. Während er aß, erzählte sie von ihrem Ärger mit den Weckgläsern, einen ganzen freien Tag habe sie daran gehängt, was solle sie jetzt mit dem Rest der Beeren bloß tun!
    »Es ist doch dumm, dass man die nirgendwo bekommt«, sagte sie, »das ist doch nur vernünftig, wenn man Vorräte anlegt, alle sollten das tun können.«
    »Vernünftig wäre«, antwortete Otto und schluckte einen Mundvoll Beerenquark hinunter, »dass jeder an seinem Platz das tut, was
ihm möglich ist. Nicht vernünftig ist es, wenn sich ständig irgendwo ein kleines Meckerlein meldet und von nichts anderem reden will als davon, dass es gerade das nicht gibt oder jenes nicht.«
     
    Von der Rommelfeier kam er spät zurück, als Marianne schon im Bett lag, und obwohl sie jedes Mal aufwachte, wenn er mit seinen Krücken ins Schlafzimmer holperte, stellte sie sich diesmal schlafend.
     
    Die Nacht brachte nur wenig Abkühlung, und als Marianne am nächsten Morgen zu den Zementwerken radelte, warf die Sonne schon wieder blauschwarze Schatten auf die Dorfstraße. Sie hatte nicht gut geschlafen, irgendwann in der Nacht war ihr eingefallen, dass sie womöglich eine Vorladung bekommen würde, nur wegen dieser alten Frau. Aber sie hatte den Stern nicht gesehen, wirklich nicht, hatte ihn gar nicht sehen können, die Alte lag doch halb auf dem Boden ...
    Als sie an der Post vorbeifuhr, trat sie rascher in die Pedale, bis das Fabriktor der Zementwerke in Sicht kam. An drei Tagen in der Woche arbeitete sie dort im Personalbüro, lange wollte sie sich das nicht mehr antun. Der Buchhalter hatte als junger Mann im flandrischen Gaskrieg einen Lungenflügel verloren und ertrug die vom Kalkstaub durchsetzte Luft der Zementwerke nicht oder kaum mehr, aber immer fand er jemanden, der ihm dafür büßen musste. An diesem Morgen war es der Lehrling Hannelore, sie hatte vergessen, die neuen Verpflegungssätze für die Polen an die Werkskantine durchzugeben, und stand jetzt mit rotem Kopf da und musste sich die fast ohne Atem geflüsterten Fragen anhören, ob und wann und wie sie diese Verschleuderung von Volksvermögen wiedergutmachen wolle.
    Nach einer Weile wurde es Marianne zu viel. »Diese Verpflegungssätze«, sagte sie kühl, »die hab ich zurückgehalten. Da wird nämlich zwischen kriegswichtiger und sonstiger Produktion unterschieden.«
    »Und?« Der Buchhalter starrte sie an, und sein Gesicht hatte eine rosa Tönung angenommen.

    »Wer hat worauf Anspruch?«, fragte Marianne zurück. »Das muss doch zuerst geklärt werden...«
    »Das müssen Sie doch wissen«, flüsterte der Buchhalter, »schon längst müssen Sie das wissen, für Polen gelten grundsätzlich und ausnahmslos die niedrigeren Sätze! Grundsätzlich! Immer!«
    »Dann wissen wir es jetzt ja«, gab Marianne zurück, aber weil Otto stellvertretender Ortsgruppenleiter war, wandte sich der Buchhalter nur ab und sagte gar nichts mehr.
    Danach war Ruhe, aber wegen der Einweisung zusätzlicher Arbeitskräfte aus dem Generalgouvernement fielen am Nachmittag Überstunden an, so dass Marianne erst am Abend nach Hause kam. Beim Radfahren merkte sie, dass der Tag anstrengender gewesen war als gewöhnlich, und an der Steige zur Siedlung über der Kleinen Lauter wäre sie fast abgestiegen, das war ihr noch nie passiert.
    »Wie fährst du eigentlich?«, tönte eine fröhliche Stimme neben ihr, »auf den Felgen oder dem Zahnfleisch?« Die Stimme gehörte Lisbeth, die mit dem 17.45-Uhr-Zug von Ulm gekommen war und sie
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