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Beifang

Titel: Beifang
Autoren: Ulrich Ritzel
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mal was«, antwortete Otto. »Und merk es dir gut.« Auf seiner Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet. »Diese Leute im Heim gehen dich nichts an, die gehen hier im Ort überhaupt niemanden etwas an, und Sorgen brauchst du dir um die gleich zweimal nicht zu machen, die machen sich auch keine Sorgen um dich, das darfst du mir glauben!«
    »Trotzdem versteh ich es nicht«, widersprach Marianne.
    »Was gibt es da nicht zu verstehen?«, schnitt ihr Otto das Wort
ab. »Wenn du wüsstest, was diese Leute zur Seite geschafft haben, in die Schweiz und sonst wohin, und was sie noch immer bei sich haben und was sie alles verstecken und wo! Du würdest Augen machen...«
    »Wo verstecken sie was?«
    Otto schüttelte unwillig den Kopf. »Ich hab doch gesagt, in der Schweiz und so. Außerdem muss dich das alles nicht kümmern, das ist alles bestens geregelt und angeordnet...«
    Marianne wollte ihre Frage wiederholen, aber plötzlich wusste sie, dass sie das besser doch nicht tat.
     
    Am nächsten Abend gingen Marianne und Otto ins Kino, gespielt wurde »Der große König«, und Otto war sehr angetan, vor allem von der Wochenschau, die die Vorstöße der deutschen Panzer in Afrika und an der russischen Front zeigte. Marianne aber ertrug die stickige Luft nur schlecht, sie bekam Kopfweh, vielleicht war auch der Ton zu laut eingestellt. Doch wollte sie Otto den Abend nicht verderben und hielt durch.
    Ins Lautertal konnte sie erst am Tag darauf, als die Dämmerung schon einsetzte und Wolken von Westen her über den Himmel zogen. Der Tag war wieder sehr heiß gewesen, die Schwalben flogen tief, und in der Luft lag eine Spannung, als müsse es noch ein Gewitter geben. Marianne fühlte sich seltsam, ein wenig ängstlich sogar, und als die Engstelle am Felsen in Sicht kam, hoffte sie, dass die alte Frau nicht dort sein würde. Aber ihr Kopftuch wollte sie ja doch zurückhaben, es war aus Seide, und Otto hatte es ihr aus dem Osten mitgebracht.
    Die Frau saß wieder am Ufer und sah ins Wasser. Marianne stellte das Rad ab und ging auf sie zu. Die Frau sah auf, und als sie Marianne erkannte, hob sie die Hand und hielt ihr das ordentlich zusammengefaltete Kopftuch entgegen. Das Gesicht der Alten - ein schmales, von weißen Haaren eingehülltes Oval, mit scharf eingekerbten Falten von den Nasenflügeln bis zum Mund - schien sich verändert zu haben, das graue Auge betrachtete Marianne anders als zuletzt: ruhig, abwägend.
    So kam es Marianne jedenfalls vor.

    »Sie haben mein Kopftuch nicht vergessen«, sagte sie, nahm das Tuch, legte es an und knüpfte einen Knoten. »Das ist nett von Ihnen, es ist... es ist aus Paris.«
    »Ja«, sagte die Frau, »das glaube ich gerne. Es ist sehr hübsch. Und es steht Ihnen.«
    Marianne lächelte kurz und ein wenig verlegen.
    »Ich wollte mich noch für die Eier bedanken«, fuhr die Frau fort. Ihre Stimme war leise, aber Marianne konnte sie gut verstehen. »Leider kann ich mich nun gar nicht revanchieren, das ist mir arg, aber ich hätte auch nur einen kleinen Gedichtband für Sie gehabt, aber das sind solche Gedichte, die Sie vielleicht gar nicht lesen dürfen.«
    Marianne dachte an Otto und sagte rasch, dass sie für die paar Eier niemals ein Buch angenommen hätte.
    »Ich werde in Ihrer Schuld bleiben müssen«, meinte die Frau. »Das ist so... Wir werden morgen weggebracht, und ich glaube nicht, dass wir uns noch einmal sehen werden.«
    Marianne erschrak, warum eigentlich? Sie wollte etwas sagen, aber ihr fiel nichts ein.
    »Da ist noch etwas.« Die Frau griff in ihre Jackentasche und holte etwas heraus, das Marianne im Zwielicht unter den Bäumen zuerst nicht erkannte. Eine Art Gespinst? Als die Frau es mit beiden Händen hochhielt, sah Marianne, dass es eine Kette war, eine Kette mit einem Anhänger, einem breiten Ring. Aus Gold? Also doch, dachte Marianne. Die Hände der Frau zitterten, und so schaukelte der Ring an der Kette hin und her.
    »Er ist über zweihundertfünfzig Jahre alt«, sagte die Frau. »Ich dürfte den Schmuck gar nicht mehr bei mir haben. Dabei war es ein Geschenk von meiner Mutter für mich.« Wieder sah sie Marianne mit einem Blick an, der nicht bittend, sondern abwägend war. »Die hebräischen Zeichen innen im Ring bedeuten Masel Tov, das heißt ›Viel Glück‹ … Und viel Glück soll der Ring Ihnen bringen, wenn Sie sich entschließen könnten, ihn für mich aufzubewahren...«
    »Ich glaube nicht...«, setzte Marianne an, aber die Frau sah ihr in die Augen und
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