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Baudolino

Baudolino

Titel: Baudolino
Autoren: Umberto Eco
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riefen viele in Selymbria, Baudolino habe die Gabe der Hellseherei und habe gesehen, was viele Meilen entfernt geschah. Unweit der Säule stand jedoch die Kirche des heiligen Mardonios, deren Priester Baudolino haßte, weil er ihm seit Monaten die müden Gaben seiner
    einstigen Schäfchen entzog. Der fing nun an zu sagen, das sei ja ein schönes Wunder gewesen, was Baudolino da vollbracht habe, und solche Wunder könne ein jeder vollbringen. Er ging unter die Säule und rief zu Baudolino hinauf, wenn ein
    Säulenheiliger noch nicht einmal in der Lage sei, einem Jungen einen Pfeil aus dem Auge zu ziehen, dann sei das genauso, als wenn er den Jungen umgebracht habe.
    Baudolino erwiderte: »Das Bestreben, den Menschen gefällig zu sein, läßt jede geistige Blüte verwelken.«
    Der Priester warf einen Stein nach ihm, und sofort liefen einige Exaltierte zusammen und schleuderten ebenfalls Steine und Erdklumpen nach der Plattform. Sie warfen den ganzen Tag lang weiter, während Baudolino zusammengekauert in seinem Pavillon hockte und sich die Hände vor das Gesicht hielt. Erst als es dunkel wurde, trollten sie sich.
    Am nächsten Morgen kam Niketas, um nach seinem Freund zu sehen, und fand ihn nicht mehr. Die Säule war verwaist.
    -647-
    Besorgt kehrte er nach Hause zurück und entdeckte Baudolino in Theophilattos' Stall. Er hatte sich eine Wanne mit Wasser gefüllt und war dabei, sich mit einem Messer den ganzen Dreck abzuschaben, der sich auf ihm angesammelt hatte. Er hatte sich, so gut es ging, den Bart und die Haare geschnitten. Er war braungebrannt von Sonne und Wind, schien nicht zu sehr
    abgemagert, hatte nur etwas Mühe, aufrecht zu stehen, und bewegte Arme und Schultern, um die steifen Rückenmuskeln zu lockern.
    »Hast du gesehen? Das einzige Mal in meinem Leben, daß ich die Wahrheit und nur die Wahrheit gesagt habe, haben sie mich beinahe gesteinigt.«
    »Das ist auch den Aposteln passiert. Du warst ein Heiliger geworden und läßt dich so schnell entmutigen?«
    »Vielleicht hatte ich ein Zeichen vom Himmel erwartet. In den letzten Monaten haben sich etliche Münzen bei mir
    angesammelt. Ich habe einen der Söhne von Theophilattos gebeten, mir Kleider, ein Pferd und ein Maultier zu kaufen.
    Irgendwo im Hause müssen auch noch meine Waffen sein.«
    »Du willst fortgehen?« fragte Niketas.
    »Ja«, sagte Baudolino. »In der Zeit auf der Säule habe ich vieles begriffen. Ich habe begriffen, daß ich gesündigt hatte, aber nie, um zu Macht und Reichtum zu kommen. Ich habe
    begriffen, daß ich, wenn ich Vergebung erlangen will, drei Versprechen einlösen muß. Erstens: Ich hatte mir
    vorgenommen, einen Gedenkstein für Abdul errichten zu lassen, und deswegen hatte ich seinen Täuferkopf an mich genommen.
    Das Geld ist nun anderswoher gekommen, und das ist besser so, denn es stammt nicht aus simonistischem Handel mit falschen Reliquien, sondern aus Spenden von guten Christen. Ich werde die Stelle wiederfinden, wo wir Abdul begraben haben, und werde ihm eine Kapelle errichten.«
    -648-
    »Aber du weißt doch gar nicht mehr, wo er gestorben ist!«
    »Gott wird mich fuhren, und ich habe Kosmas' Karte im Kopf.
    Zweitens: Ich hatte meinem guten Vater Friedrich um nicht von Bischof Otto zu reden - ein hochheiliges Versprechen gegeben, und bis heute habe ich es nicht gehalten. Ich muß ins Reich des Priesters Johannes gelangen. Sonst hätte ich mein Leben umsonst gelebt.«
    »Aber ihr habt doch mit Händen gegriffen, daß es nicht
    existiert!«
    »Wir haben mit Händen gegriffen, daß wir nicht hingelangt sind. Das ist etwas anderes.«
    »Aber ihr seid euch doch klargeworden, daß die Eunuchen logen.«
    »Daß sie vielleicht logen. Aber nicht gelogen haben konnten der gute Bischof Otto und die ganze Tradition, die davon handelt, daß es den Priester irgendwo gibt.«
    »Aber du bist nicht mehr so jung wie damals, als du es das erste Mal probiert hattest!«
    »Ich bin klüger geworden. Drittens: Ich habe dort einen Sohn oder eine Tochter. Und dort ist Hypatia. Ich will sie
    wiederfinden und sie beschützen, wie es meine Pflicht ist.«
    »Aber es sind mehr als sieben Jahre vergangen!«
    »Dann wird das Kind mehr als sechs Jahre alt sein. Ist ein Kind von sechs Jahren nicht mehr dein Kind?«
    »Aber es könnte ein Knabe sein und folglich ein Satyr-den-man-nie-sieht!«
    »Und es könnte auch eine kleine Hypatia sein. Ich werde das Geschöpf in jedem Fall lieben.«
    »Aber du weißt nicht, wo die Berge sind, in die sie
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