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Baudolino

Baudolino

Titel: Baudolino
Autoren: Umberto Eco
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tausend Dinge, so bist du sein
    nimmermüder Diener.«
    Ein anderer erbat seinen Rat, wie er einen Streit mit seinem Nachbarn beenden könnte. Darauf Baudolino: »Sei wie ein Kamel: Trage die Last deiner Sünden und folge den Schritten dessen, der die Wege des Herrn kennt.«
    Wieder ein anderer sagte ihm, seine Schwiegertochter könne kein Kind bekommen. Und Baudolino: »Alles, was ein Mensch denken kann über die Dinge unter dem Himmel und die Dinge über dem Himmel, ist müßig. Nur wer im Gedächtnis Christi verharrt, ist in der Wahrheit.«
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    »Wie weise er ist«, sagten die Frager, ließen ihm ein paar Münzen da und gingen getröstet nach Hause.
    Es kam der Winter, und Baudolino hockte fast immer
    zusammengekauert im Pavillon. Um sich nicht lange
    Geschichten von seinen Besuchern anhören zu müssen, fing er an, sie zu antizipieren. »Du liebst eine Person von ganzem Herzen, aber manchmal kommen dir Zweifel, ob diese Person dich ebenso liebt«, sagte er etwa. Und der Besucher: »Wie wahr das ist! Du hast in meiner Seele gelesen wie in einem
    aufgeschlagenen Buch! Was muß ich tun?« Und Baudolino:
    »Schweige, und miß dich nicht selber.«
    Zu einem dicken Mann, der als nächster kam und schnaufend hinaufgestiegen war, sagte er: »Du wachst jeden Morgen mit Halsschmerzen auf und hast Mühe, dir die Schuhe anzuziehen.«
    - »So ist es«, sagte der Dicke bewundernd. Und Baudolino: »Iß drei Tage lang nichts. Aber werde nicht stolz auf dein Fasten.
    Bevor du stolz darauf wirst, iß lieber ein Stück Fleisch. Es ist besser, Fleisch zu essen, als sich zu brüsten. Und nimm deine Leiden als Strafe für deine Sünden.«
    Ein Vater kam und sagte, sein Sohn sei mit Schwären bedeckt.
    Ihm antwortete Baudolino: »Wasch ihn dreimal am Tag mit Wasser und Salz und sprich dazu die Worte: Jungfrau Hypatia, sorge für deinen Sohn.« Der Mann ging, kam nach einer Woche wieder und sagte, die Schwären seien dabei zu verheilen. Er gab ihm Münzen, eine Taube und eine Flasche Wein. Alle
    verwunderten sich sehr, und wer krank war, ging in die Kirche und betete: »Jungfrau Hypatia, sorge für deinen Sohn.«
    Ein schlechtgekleideter Mann mit düsterem Blick kam die Leiter heraufgestiegen. Baudolino sagte zu ihm: »Ich weiß, was du hast. Du trägst Groll auf jemanden in deinem Herzen.«
    »Du weißt alles«, sagte der Mann.
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    Baudolino fuhr fort: »Wenn jemand Böses mit Bösem
    vergelten will, kann er einen Bruder auch mit einem bloßen Wink verletzen. Halte die Hände immer hinter dem Rücken.«
    Es kam einer mit traurigen Augen und sagte: »Ich weiß nicht, welches Übel ich habe.«
    »Ich weiß es«, sagte Baudolino. »Du bist träge.«
    »Wie kann ich gesund werden?«
    »Die Trägheit zeigt sich das erste Mal, wenn man bemerkt, mit welch extremer Langsamkeit sich die Sonne bewegt.«
    »Und was tut man dagegen?«
    »Schau nie in die Sonne.«
    »Man kann ihm nichts verbergen«, sagten die Leute von
    Selymbria.
    »Wie kommt es, daß du so weise bist?« fragte ihn einer. Und Baudolino: »Weil ich mich verstecke.«
    »Wie kannst du dich verstecken?«
    Baudolino streckte ihm eine geöffnete Hand entgegen. »Was siehst du vor dir?« fragte er. »Eine Hand«, sagte der andere.
    »Siehst du, ich kann mich gut verstecken«, sagte Baudolino.
    Der Frühling kam wieder. Baudolino wurde immer
    schmutziger und struppiger. Außerdem war er von Vögeln
    bedeckt, die in Scharen geflogen kamen und die Würmer
    aufpickten, die inzwischen auf seinem Körper lebten. Da er alle diese Geschöpfe ernähren mußte, füllten die Leute ihm
    mehrmals am Tag seinen Korb.
    Eines Morgens kam ein Ritter, erschöpft und staubbedeckt. Er sagte ihm, ein adliger Herr habe während einer Jagdpartie einen Pfeil schlecht abgeschossen und den Sohn seiner Schwester getroffen. Der Pfeil sei in ein Auge eingedrungen und im
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    Nacken herausgekommen. Der Knabe atme noch, und der Herr bitte Baudolino, alles zu tun, was ein Gottesmann tun könne.
    Baudolino sagte: »Aufgabe des Säulenheiligen ist es, die eigenen Gedanken aus der Ferne eintreffen zu sehen. Ich wußte, daß du kommen würdest, aber du hast zuviel Zeit gebraucht, und ebenso lange wirst du für deine Rückkehr brauchen. Die Dinge laufen auf dieser Welt, wie sie laufen müssen. Wisse, daß der Knabe gerade stirbt, ja, daß er jetzt in diesem Augenblick schon gestorben ist, Gott erbarme sich seiner.«
    Der Ritter kehrte zurück, und der Knabe war bereits tot. Als sich die Nachricht herumsprach,
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