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Ballsaison: Palinskis siebter Fall

Ballsaison: Palinskis siebter Fall

Titel: Ballsaison: Palinskis siebter Fall
Autoren: Pierre Emme
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Tagen regelmäßig bis zu 15 Minuten Verspätung, aber darauf konnte man sich nicht verlassen.
    Gegen Viertel vor sechs hatte Pribilek einen zweiten Weckversuch starten wollen, war aber von einigen Fahrgästen aufgehalten worden. So hatte er sich erst kurz nach 6.00 Uhr wieder an der besagten Abteiltüre bemerkbar gemacht. Zunächst noch dezent, dann immer energischer und zuletzt so nachhaltig, dass die Türen aller umliegenden Abteile aufgingen. Bloß die mit der Nummer 103 nicht.
    So blieb Pribilek um 6.08 Uhr, also zwölf Minuten vor der planmäßigen Ankunft des Zuges in der größten Stadt der Schweiz, nur mehr der entschlossene Griff zum Schlüssel, um sich Zutritt zu verschaffen. Und die Gewissheit zu gewinnen, dass diese Fahrt doch nicht ganz so ereignislos enden würde wie erhofft.
    Mellnig lag wie schlafend da. Was den ersten, durchaus friedlichen Eindruck allerdings entscheidend störte, war der Umstand, dass die Augen des Mannes weit aufgerissen waren und anklagend zur Decke des engen, an ein Verlies erinnernden Abteils starrten. Auch das dünne, aus dem linken Nasenloch kommende Rinnsal aus Blut, das sich einen Weg über die Wange hinunter auf den weißen Überzug des Kopfkissens gesucht hatte, trug erheblich zur stark ansteigenden Beklemmung Pribileks bei.
    Fieberhaft überlegte er, was jetzt zu tun war. Erwartete man vom ihm irgendwelche Rettungsversuche, obwohl der Mann doch wahrscheinlich längst nicht mehr lebte? Vielleicht Rettungsmaßnahmen, bei denen er Hand anlegen, dem Toten möglicherweise noch Luft in den von bleichen, eingefallenen Wangen flankierten Mund blasen musste?
    Während es den Schlafwagenschaffner bei dem Gedanken innerlich beutelte wie einen in den Stromkreis geratenen Badewaschl, meldete sich von hinten eine Stimme. »Lassen Sie mich einmal sehen«, meinte ein alter Herr, »ich bin Arzt .«
    Pribileks Oma hatte immer davon gesprochen, dass Gott am nächsten war, sobald Gefahr drohte. Bei ihr hatte das allerdings viel bedeutungsvoller und gleichzeitig auch literarischer geklungen, dennoch hatte ihr der ›Werni‹ nie geglaubt. Jetzt hatte sich das mit einem Schlag geändert. Während er sich umdrehte, um Dr. Exler, wenn er sich richtig erinnerte, Platz zu machen, sandte er der alten Dame in Gedanken ein tief empfundenes Dankeschön, verbunden mit einer Abbitte. Dann nahm er sich noch ganz fest vor, gleich nach seiner Rückkehr die längst fällige Kirchensteuer für die vergangenen Jahre zur Einzahlung zu bringen. Ehrlich, kein Schmäh.
    Während sich der Arzt mit einigen kundigen Griffen vergewisserte, dass dem mit knapp 1,90 m Körpergröße für die kleine waagrechte, euphemistisch ›Bett‹ bezeichnete Fläche viel zu großen Mann nicht mehr zu helfen war, gewann Pribilek langsam die Kontrolle über sich zurück. Er nestelte in seiner Uniformjacke herum, förderte ein Handy zutage und stellte eine Verbindung zum Zugführer her. Dieser, ein St. Pöltner namens Walter Hebreich, war innerhalb von zwei Minuten zur Stelle. Gerade rechtzeitig, um Dr. Exlers vorläufige Diagnose, nämlich: »Der Mann könnte eine Gehirnblutung gehabt haben. Endgültig kann das aber nur eine Obduktion klären«, noch mitzubekommen.
    »Der Fahrgast ist aber schon eines natürlichen Todes gestorben ?« , wollte der Zugführer wissen.
    Der Arzt zuckte mit den Schultern: »Ich bin kein Gerichtsmediziner, aber irgendwie kommen mir die Umstände eigenartig vor. Ich würde Fremdeinwirkung nicht ganz ausschließen .«
    Diese Aussage veranlasste Hebreich, sich sofort mit der Bahnhofsleitung Zürich in Verbindung zu setzen. Mit der Bitte, alles in dieser Situation Erforderliche zu veranlassen.
    Das war genau um 6.17 Uhr, also drei Minuten vor der planmäßigen Ankunft des Zuges. Am Dienstag, dem 3. Juni, vier Tage vor dem Eröffnungsspiel der Fußballeuropameisterschaft in Österreich und der Schweiz.

     
    * * *

     
    Mario Palinski, der Leiter des von ihm ursprünglich nur als formale Basis für seine Beratertätigkeit gegründeten ›Instituts für Krimiliteranalogie‹ war zufrieden. Hundemüde, aber wirklich sehr, sehr zufrieden. Beides verdankte er letztlich dem in wenigen Tagen mit den ersten Spielen in Basel und Wien beginnenden Fußballfest.
    Im April vergangenen Jahres war das Institut auf Anregung seines alten Freundes Dr. Michael Schneckenburger mit der Erstellung einer Studie zum Thema ›Verbrechen und terroristische Anschläge auf Großveranstaltungen in der jüngeren Literatur‹ beauftragt
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