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Ballaststoff

Ballaststoff

Titel: Ballaststoff
Autoren: Gmeiner-Verlag
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ankommen, bleiben. Der Ort hier gefiel mir auf Anhieb. Ein Platz weitab von jeglichem Trubel, und durch den benachbarten Hof trotzdem nicht ganz abgeschieden. Ein kleines Haus nur für mich, Raum für mein Atelier, ein Garten, alles mitten in der Natur. Das war nach meinem Großstädterleben ganz neu für mich, aber schon in den ersten Tagen ahnte ich etwas von dem großen, friedlichen Gefühl, das sich in mir auszubreiten begann. Ich schöpfte Hoffnung, endlich am richtigen Ort angekommen zu sein.
    Bis ich ihn sah.
    Erst zweifelte ich. Vielleicht war er es ja gar nicht, vielleicht war das nur wieder meine überspannte Wahrnehmung, die mir ab und zu schon mal einen Streich gespielt hatte. Nach all den Jahren sollte mich mein Weg direkt zu ihm geführt haben? Das konnte doch nicht sein. Ich beobachtete ihn heimlich, schlich in der Dunkelheit ums Haus herum, spähte durch seine Fenster, fuhr ihm nach. Als ich ihn in diesem Laden erlebte, gab es keinen Zweifel mehr. Er war es. Er war der Mittelpunkt, um den sich alles drehte, die Menschen um ihn herum dienten nur als Publikum, sie selbst interessierten ihn nicht.
    Nach dieser Erkenntnis wollte ich sofort wieder von hier weg. Der Gedanke, diesen Menschen als nächsten Nachbarn zu haben, ihm womöglich des Öfteren zu begegnen, erschien mir unerträglich. Bis ich ihn mit den kleinen Mädchen hier auf dem Hof spielen sah. Da wurde mir klar, dass mich das Schicksal nicht ohne Grund hierher gesandt hatte. Ich hatte eine Aufgabe zu erfüllen. Mir war es in die Hand gegeben, die Sache zu einem gerechten Ende zu bringen.
     
    Und dann kam dieser Sonnabendnachmittag. Ich wollte gerade mit dem Fahrrad auf eine Trainingsrunde gehen, da hörte ich laute Stimmen aus der Kammer hier am Haus. Seine und die von Henning Langhusen, höchst erregt. Aus den Wortfetzen, die ich mitbekam, konnte ich schließen, um welches Thema es ging. Es war das altbekannte. Ich lugte durch die angelehnte Tür und sah ihn fallen. Langhusen war entsetzt, er wirkte völlig kopflos und rannte weg.
    Vorsichtig ging ich zu dem am Boden Liegenden hin. Er war nicht tot, er atmete.
    »Hallo, Kurt«, sagte ich zu ihm. Langsam kam er wieder zu sich, schlug die Augen auf. Er erkannte mich nicht. Natürlich, es war 25 Jahre her, dass wir uns zuletzt gesehen hatten. Aber auch wenn ich mich seit damals überhaupt nicht verändert hätte, er hätte mich trotzdem nicht erkannt. Andere Menschen waren in Kurts Kosmos nichts als umgebende Dekoration für sein Ego. Das einzelne Individuum nahm er nicht wahr.
    »Ich bin Matta«, nannte ich ihm den Namen, unter dem er mich damals kennengelernt hatte.
    »Erinnerst du dich?«
    »Matta?«, fragte er gleichgültig. »Sollte ich dich kennen?«
    »Ich gebe dir einen Tipp: Es war in Berlin.«
    »Wenn du schon mal hier bist, Matta, kannst du mir ja wenigstens hochhelfen, statt hier ein fröhliches Ratespiel zu veranstalten!«, forderte er unwirsch, ohne sich für mich in irgendeiner Form zu interessieren.
    Ich packte ihn unter den Armen und zog ihn hoch. Er war ziemlich unsicher auf den Beinen.
    »Sarah«, sagte ich und sah ihm in die Augen. Ob ihm in diesem Moment klar wurde, wer ich war, kann ich gar nicht sagen.
    »Ach, die niedliche kleine Sarah«, sagte er nur gedehnt und sah mich mit einem widerwärtigen Grinsen an. »Wie geht’s der denn so?«
    »Sie ist tot.«
    »Ah ja?«, fragte er ohne großes Interesse.
    »Sie hat sich das Leben genommen, als sie zwölf war. Sie hat nie verwunden, was du ihr damals angetan hast.«
    »Ich ihr angetan? Was soll das denn heißen?«
    Verständnislos schüttelte er seinen Kopf.
    »Ihr Spießer wollt einfach nicht kapieren, dass die kleinen Mädchen das gern mögen, wenn sich der liebe Kurt um sie kümmert.«
    Er warf mir einen verächtlichen Blick zu. Jetzt war ich mir sicher, er wusste, wen er vor sich hatte.
    »Auch die hübsche Sarah hatte immer ihren Spaß.«
     
    Ich machte einen Schritt hinter ihn und versetzte ihm einen Stoß. Es war ganz leicht. Wacklig, wie er noch war, landete er mit dem Gesicht in der Müsliwanne. Ich legte meine Hände um seinen Hals und drückte zu, bis er sich nicht mehr bewegte. Da erst hab ich meine Hände von seinem Hals gelöst. Er rutschte schlaff auf den Boden. Als ich Schritte hörte, habe ich mich schnell draußen hinter die Tür gestellt. Durch einen Spalt sah ich einen jungen Mann, der erschrocken auf den toten Kurt schaute und dann sofort wieder verschwand.
    Ich hab’ eine von den großen Decken geholt,
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