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Ballaststoff

Ballaststoff

Titel: Ballaststoff
Autoren: Gmeiner-Verlag
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gegeben. Englischlehrerin! Masse statt Klasse. Das war eben der Preis, den die Öffnung dieses wunderbaren Sports für jedermann forderte. Mit einem heftigen Schlag in, nun ja, sehr individueller Technik, beförderte ihre Partnerin den Ball auf seine Flugbahn und er landete – oh Wunder – ein ganzes Stück vor Sibyllas eigenem, kurz hinter dem Sand des zweiten Fairway-Bunkers.
    »Das war doch gar nicht so schlecht, oder?«, konstatierte Henny zufrieden.
    Zufall. Sibylla Graf verzichtete auf eine Antwort, griff mit ihrer Linken, die in einem weißen Handschuh aus feinstem Ziegenleder steckte, nach ihrem Trolley und begann, energischen Schrittes den Abhang zum Fairway hinunterzugehen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ihre Partnerin in den albernen schwarz-rosé karierten Bermudas sich nach dem Tee bückte, hastig das Holz in das Golfbag packte und ihr folgte. Wie man sich mit dieser Figur so kleiden konnte, war Sibylla Graf ein Rätsel.
    Als die amtierende und hoffentlich zukünftige Klubmeisterin der Damen, die im Klub ehrfurchtsvoll ›die Gräfin‹ genannt wurde, ihren eigenen Ball auf dem Fairway erreicht hatte, griff sie nach dem Siebener Eisen, in dem sicheren Bewusstsein, direkt aufs Green zu spielen. Wieder richteten sich all ihre Sinne auf den Ball vor ihr, sie wurde quasi eins mit dem Schläger in ihren Händen. Es war ein Augenblick höchster Anspannung. Sie fixierte das Green, das in ungefähr hundert Meter Entfernung leicht erhöht vor ihr lag, und holte in einem kraftvollen Schwung aus.
    Schrill ertönte eine Telefonklingel.
    »Ach du meine Güte! Hab tatsächlich vergessen, mein Handy auszuschalten.«
    Henny, die inzwischen neben ihr angekommen war, vom schnellen Gehen etwas kurzatmig, fummelte an ihrem Mobiltelefon herum. Der Ball flog unterdessen in einer unschönen Kurve nach rechts ins Rough, wo hinter einem Wasserhindernis ein kleines Wäldchen lag. Wut war ein viel zu kleines Wort für das, was die Gräfin in diesem Moment fühlte. Sie biss ihre Zähne so fest zusammen, dass es im Kiefer knackte, und krallte sich an ihrem Golfschläger fest. Auch wenn Henny über eine unglaubliche Ignoranz verfügte: dass der verschlagene Ball ihre Schuld war, wusste selbst sie.
    »Ich mach schnell meinen Schlag, und dann helf ich dir suchen. Oder nimm doch einfach einen anderen Ball.«
    Sie schaute sich um.
    »Das merkt doch gar keiner. Ist niemand zu sehen.«
    »Dass Fairplay für dich ein Fremdwort ist, überrascht mich nicht. It’s your turn«, entgegnete Sibylla Graf kühl. Mit rotem Kopf zog Henny weiter zu ihrem Ball, griff nach dem nächsten Eisen und platzierte die weiße Kugel mit einem bilderbuchmäßigen Schwung direkt auf dem Green. Die Gräfin konnte ein leises, abfälliges Schnauben nicht unterdrücken und machte sich umgehend mit ihrem Trolley auf den Weg zum Rough, wo das ungemähte Gras, in dem ihr Ball verschwunden war, bis zu einem halben Meter hoch stand.
     
    »Warte doch, ich helf dir suchen!«, rief ihr Henny nach.
    »Untersteh dich«, war die klare Antwort auf dieses freundliche Anerbieten. »Sieh lieber auf die Uhr.«
    Vergeblich bemühte sich Sibylla Graf, wieder ruhig zu werden, während sie mit dem Pitching-Wedge in der Hand am Rand des Wäldchens zwischen den wuchernden Gräsern den Boden nach ihrem Ball absuchte. Keine Spur davon. Hoffentlich war er nicht in dem kleinen Weiher gelandet, dem sie sich näherte, denn in dessen Wasser versunken, war der Ball verloren, und sie müsste einen Strafschlag machen.
     
    Der Ball lag nicht im Wasser. Er lag auf dem Rücken einer Person, die wiederum halb im Wasser auf dem Bauch am leicht abschüssigen Ufer des Weihers lag und von einem Schwarm fliegender Insekten umschwirrt wurde.
    »Oh nein!«, sagte Sibylla Graf voller Entsetzen zu sich selbst, denn ihr wurde soeben klar, dass sie die Klubmeisterschaft für heute vergessen konnte.
     
    Ungeduldig wippte der Mann in seinen Sebago Dockers auf und ab. Sie waren aus Lack- und Glattleder in Schwarz, Blau und Weiß kombiniert und hatten strahlend weiße Sohlen, passend zum ebenfalls blendenden Weiß der Hose, die sich daran anschloss. Das darüber sitzende Polohemd nahm in unterschiedlich breiten Streifen die Farbkombination der Schuhe wieder auf. Perfekt gebräunt, wie auch die nackten Arme, war das – ja, fast war man versucht zu sagen: aristokratisch geschnittene – Gesicht, gekrönt von glatt nach hinten gekämmten blonden Haaren gleicher Länge, auf denen die zurückgeschobene
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